Vor 30 Jahren sind vietnamesische Flüchtlinge in Vorarlberg angekommen. Arno Rebenklauber erzählt von seiner Freundschaft mit ihnen und damit auch über ein bedeutsames Stück Vorarlberger Geschichte.

Es ist rund 30 Jahre her. In Vietnam tobte der Krieg und die Menschen flüchteten in Booten übers Meer in alle Welt. Eine kleine Gruppe der so genannten „Boat People“ haben in Vorarlberg Aufnahme gefunden. Aus einer damals zufälligen Begegnung ist eine jahrzehntelange Freundschaft gewachsen.

(Bild re: Lan, die kleine "Orchidee" mit ihrer Mutter Thuy inmitten der damaligen (1979) Klasse in der Hauptschule Frastanz)

Letzten Sonntag waren wir von Familie Ha in einem vornehmen chinesischen Restaurant zu einem Jubiläumsessen eingeladen - wir, das heißt meine Frau und unsere vier, mittlerweile erwachsenen, Kinder mit ihrem „Anhang“ und ich selber. Diese Einladung hat eine fast 30jährige Vorgeschichte. Alles hatte fast zufällig (?) vor rund 30 Jahren begonnen. Ich war Lehrer in der Hauptschule Frastanz und meine Klasse hatte Interesse, mehr zu erfahren über diese Menschen, die meist unter Lebensgefahr aus einem Land geflüchtet waren, das zwei Generationen lang einen Krieg mit unvorstellbaren Greueltaten erlebt hatte.

Den Vietnamkrieg hatte ich fast täglich als Schüler und später als Student im Schwarzweiß-Fernsehen mitverfolgt - meist natürlich nur aus dem US-amerikanischen Blickwinkel. Nur selten gelang es engagierten Journalisten, wie z. B. Peter Scholl-Latour, Filmmaterial herauszuschmuggeln - einmal in einem Gipsverband versteckt. Youtube oder Twitter, die jetzt im Iran erfolgreich eingesetzt werden, waren noch nicht erfunden. Handys hießen damals noch „Handie Talkies“, wogen 2,5 kg und waren nur fürs Militär bestimmt.

Vom schrecklichen Krieg und vom unvorstellbaren menschlichen Leid wussten meine Schüler/Schülerinnen also effektiv nichts. Es war allerdings bekannt, dass an die 35 vietnamesische Flüchtlinge über verschiedene Zwischenstationen mit Hilfe der Caritas und der Landesregierung nach Vorarlberg kommen würden - wenige Familien nur, ansonsten meist jüngere Männer - die der Arbeitsmarkt gut brauchen konnte. Wir einigten uns auf den Vorschlag, eine Familie zu uns in die Klasse einzuladen, um wenigstens ein paar Informationen aus erster Hand zu bekommen.

So gab es eine kleine Party mit Limonade und Kuchen. Wir saßen im Stuhlkreis und hatten viel zu lachen. Natürlich nicht über die schlimmen Erlebnisse vor und während der Flucht, als das mickrige, rostzerfressene Fischerboot von Vater Tuan im Seegang zu kentern drohte und das Trinkwasser langsam knapp wurde, sondern wegen der Verständigungsschwierigkeiten in Englisch und vor allem wegen des Stars des Nachmittags: Die kleine Tochter Lan, das bedeutet Orchidee. Das Baby bekam Hunger und ganz selbstverständlich nahm Mutter Thuy ihre kleine ‘Orchidee’ an ihre Brust und stillte das Kind, während ich mir schon so meine Gedanken über meine weitere Lehrerkarriere im züchtigen Vorarlberg machte...

Wochen später war die Familie zu Gast bei uns zu Hause. Ja, von da an gäbe es viel zu erzählen: Über stetige Wohnungswechsel, die Bemühungen von Vater Tuan, irgendeine Arbeit zu finden, die Probleme beim Zurechtfinden in unserem Kulturkreis (Soda ist nicht gleich Grießzucker, Orangen schmecken besser, wenn man sie vorher schält) - das sind nur Beispiele für zahlreiche Schwierigkeiten, mit denen sich die Familie konfrontiert sah.

Aber sie hatten auch das Glück, auf wohlgesinnte Familien - vor allem in der Lochauer  Zeit - zu treffen, die sich für sie interessierten, ihnen in allen möglichen Situationen hilfreich zur Seite standen. Es war wichtig für sie, gewisse Spielregeln mit der notwendigen Deutlichkeit erklärt zu bekommen, was sich auf eine Integration durchaus förderlich auswirkte. Eine eher mühsame Angelegenheit war das Erlernen der deutschen Sprache. Beide Elternteile waren berufstätig, oft in Gegenschicht arbeitend und am Arbeitsplatz hatten sie es meistens mit türkischen und jugoslawischen Kollegen/innen zu tun. An Weihnachten wurde unsere Familie immer wieder mit Geschenken überhäuft - dabei waren wir sicher nicht die Familie, die sie am meisten unterstützt hat.

Das Leben ging weiter. Es stellte sich bald Nachwuchs ein: Sohn Franz und Tochter Angelika. Die ganze Familie konvertierte zum katholischen Glauben: Taufe und Firmung am selben Tag und die Erstkommunion der Eltern auch. Lan - die Orchidee - erhielt den Taufnamen Julia und feierte kurz darauf ihre erste  Kommunion. Berufliche, gesundheitliche und andere Probleme blieben nicht aus und bescherten der Familie HA ein Auf und Ab. Wir hörten sie aber nie klagen oder jammern,  sie erzählten einfach nur und waren mitunter mehr an unseren Freuden und (kleinen) Sorgen interessiert als an ihren eigenen.

Die Kinder gediehen prächtig. Franz hat sein BWL-Studium erfolgreich beendet, sucht aber noch einen passenden Job - bis dahin ist er sich nicht zu schade, an der Kassa zu stehen. Angelika ist Krankenschwester geworden und Lan, respektive Julia, hat Psychologie studiert, Schwerpunkt: Migration und interkulturelle Kompetenzen. Sie sammelte Erfahrungen bei der Caritas und in der Menschenrechtskommission für Tirol und Vorarlberg.

Es ist gut geworden. Dass aus diesem damals wirklich bemitleidenswerten Paar, das mit seinem „Poppele“ auf der Flucht war und bei uns Heimat finden konnte, eine großartige Familie geworden ist, das freut uns riesig und - keine Frage - auch die Eltern dürfen - wie sie es auch sind - stolz sein. Und eigentlich, auch wenn wir ihre überschwängliche Dankbarkeit uns gegenüber rational kaum nachvollziehen können: Wir wissen, sie ist zutiefst ehrlich gemeint und wir spüren immer deutlicher und mehr, dass eigentlich wir die Beschenkten sind.

Zur Sache: Die Boat People und Vorarlberg

Vietnamkrieg (2. Indochinakrieg, ca. 1960 - 65). Er endete am 1. Mai 1975 mit der Einnahme der südvietnamesischen Hauptstadt Saigon durch die Kommunisten Nordvietnams. Man rechnet mit drei bis fünf Millionen Toten. „Agent Orange“ - ein aus Flugzeugen versprühtes, dioxinhältiges Entlaubungsmittel - und Napalm-Brandbomben sind mit dem Vietnamkrieg verbunden.
n Boat People: Über 1,6 Millionen Vietnamesen suchten über das Südchinesische Meer in Booten (zwischen 150 und 600 Personen) zu flüchten. Großteils wurden sie in malaysischen Lagern aufgenommen. Geschätzte 250.000 Boat People fanden auf der Flucht den Tod.

Vorarlberg war im Februar 1979 Ziel für etwa 30 Vietnamesen/innen (überwiegend junge Männer aus malaysischen Auffanglagern). In den 80er Jahren wurden viele von ihnen eingebürgert. Einige Familien waren in Vietnam schon Christen, einige sind es hier in Vorarlberg geworden. Die meisten praktizieren den Ahnenkult (Verehrung der Toten und der Glaube, dass die Verstorbenen Einfluss auf die Lebenden haben) oder sie sind Buddhisten.

Arbeit fanden sie in der Industrie und Gastronomie. Einige haben sich selbstständig gemacht. Die Mehrheit der Flüchtlinge aus dem Jahr 1979 sind in Vorarlberg geblieben und fühlen sich wohl.

Die 2. Generation ist gut integriert. Matura und Studium, Bildung, Wissen und berufliches Fortkommen gelten in der vietnamesischen Community als hohe Werte. Ein Studienabschluss ist mehr Wert als eine Eigentumswohnung und wird in der ganzen Community gefeiert. Solidarität und Loyalität stehen im Vordergrund. In vielen Familien wird eine Mischform aus Vietnamesisch und Deutsch gesprochen, wobei Geschwister überwiegend Deutsch miteinander sprechen und mit ihren Eltern Vietnamesisch.

(KiBlatt-Artikel von Arno Rebenklauber)