Die Türkei stimmte bei einem Referendum im Frühjahr dieses Jahres knapp für weitgehende Rechte für Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Wie soll Europa mit diesen neuen Vollmachten für das türkische Staatsoberhaupt umgehen? Universitätsprofessor Ernst Struck hielt dazu einen sehr differenzierten, historisch fundierten Vortrag beim Gesellschaftspolitischen Stammtisch des EthikCenters der Katholischen Kirche Vorarlberg am Montag dieser Woche in Dornbirn. Die anschließende Diskussion war sehr sachlich, auf hohem Niveau und keineswegs emotionalisiert.

Wolfgang Ölz

Moderator Thomas Matt stellte klar, dass beim Thema Türkei die Wogen normalerweise hochgehen. Deswegen hat sich das Stammtisch-Team entschieden, keine Politiker oder Vertreter von Glaubensrichtungen einzuladen, sondern einen Wissenschaftler, der mit der türkischen und hiesigen Welt sowohl beruflich als auch privat vertraut ist.

Experte aus Istanbul und Bayern

Der emeritierte Prof. Dr. Ernst Struck erfüllt diese Kriterien bestens. Einerseits unterrichtete er in seiner aktiven Zeit an der Universität in Passau, andererseits ist er Professor an der Türkisch-Deutschen Universität in Istanbul und dort Studienverantwortlicher für den Master „Interkulturelles Management“. Verheiratet ist der Experte mit einer türkischen Staatsbürgerin. Istanbul kann mit Fug und Recht als seine zweite Heimat bezeichnet werden.

Drastische Imageverschlechterung

Professor Ernst Struck vermittelte in seinem Vortrag auf einer sachlichen Ebene, was hinter den Konfliktsituationen am Bosporus steckt, wobei „Verstehen“ nicht gleichzusetzen sei mit „Verständnis“. Die Türkei werde nämlich von vielen Mitteleuropäern mittlerweile mit einem großen Fragezeichen versehen. Das Image der Türkei habe sich drastisch verschlechtert, was allein schon an der Tatsache abgelesen werden könne, dass - ganz anders als vor noch zwei Jahren - praktisch niemand mehr aus Mitteleuropa in der Türkei Urlaub macht.

Gegen die Demütigung durch die EU

Die Behandlung der Türkei bezüglich des gewünschten EU-Beitritts haben viele Türken als Demütigung erfahren. Auch Professor  Struck hält es für moralisch unsäglich, dass die Türkei, die bereits 1987 ihr Beitrittsgesuch gestellt hat, so lange hingehalten wurde, während Länder wie Rumänien und Bulgarien trotz Menschenrechtsbedenken u.a. sehr rasch in die EU aufgenommen worden sind. In diese Situation kam dann ein Mann wie Recep Tayyip Erdogan genau richtig, der den Nationalstolz der Türken bediente und - ähnlich wie Donald Trump in den USA - stark auf Emotionen setzt und immer wieder sagt: „Ich zeige euch, wie ihr euch wieder gut fühlen könnt.“ Auch das herrschende Chaos, der omnipräsente Terrorismus der PKK und linker Splittergruppen, der Krieg in Syrien, der so genannte „Islamische Staat“ und die als Bedrohung dargestellte Gülen-Bewegung, die den Staat von innen her zersetzen wolle, begünstigten ein Klima für den Ruf nach „einem starken Mann“.

Architektonischer Gigantismus

Zelebriert wird dieser neue Kult u.a. mit gigantischen Bauprojekten wie der höchsten Hängebrücke der Welt, der in Bau befindlichen größten Moschee der islamischen Welt für 60.000 Gläubige oder dem Präsidentenpalast, der größer ist als das Weiße Haus in Washington. Im Alltag der Menschen ist noch nicht angekommen, dass der Wirtschaftsboom, der seit dem Jahr 2000 die Türkei beflügelt hat, trotz staatlicher Großaufträge zusammenbricht, weil die türkische Wirtschaft stark auf Export und Tourismus angewiesen ist.

Ein neues osmanisches Reich?

Die Regierung Erdogan versucht auch die Geschichte des osmanischen Reiches neu zu erzählen. Die Europäisierung, die Kemal Atatürk in den 1920er-Jahren von einem Tag auf den anderen eingeführt hat, wird zusehends durch einen Islamismus ersetzt. Dabei kommt es zu einer starken Polarisierung und Ideologisierung der türkischen Gesellschaft. Schließlich hat fast die Hälfte der Türken gegen das Referendum von Erdogan gestimmt.  Der derzeit verhängte Ausnahmezustand, der einen zum Teil rechtsfreien Raum geschaffen hat, könnte bis 2019 beibehalten werden. Dann finden Wahlen statt. Gewinnt Erdogans AKP die absolute Mehrheit, kann sie in Eintracht mit dem Präsidenten eigene Gesetze alleine beschließen.

(aus dem Vorarlberger KirchenBlatt Nr. 24 vom 15. Juni 2017)