Am 27. April werden in Rom zwei herausragende Päpste des 20. Jahrhunderts heiliggesprochen: Johannes XXIII. und Johannes Paul II. Auf den ersten Blick könnten diese beiden Heiligen nicht unterschiedlicher sein – und doch verbindet sie ihr unermüdlicher Einsatz für die Menschenrechte und den Frieden ebenso wie ihre persönliche Frömmigkeit.

Bild rechts: Johannes Paul II. wurde am 16. Oktober 1978 zum Papst gewählt. Am 2. April 2005 starb er nach langem Leiden am Vorabend des von ihm eingeführten „Sonntags der Barmherzigkeit“.

 ZUR SACHE - Bilder aus seinem Leben

Józef Niewiadomski über seinen Landsmann, Papst Johannes Paul II. (1920–2005) 

Niewiadomski JozefDr. Józef Niewiadomski
studierte Theologie in Lublin und Innsbruck;
er war Professor für Dogmatik in Linz und
lehrt das Fach seit 1996 in Innsbruck.

Interview: Hans Baumgartner

Johannes Paul II. ist der erste Papst aus dem (damaligen) „Osten“, und er ist der Papst vieler Rekorde. Nun wird er auch noch im Rekordtempo heiliggesprochen. Ist das gerechtfertigt?
Józef Niewiadomski: Als ich bei seiner Beerdigung die Transparente „santo subito“ (sofort heilig) sah, dachte ich: eine „spontane“ Heiligsprechung dieses Papstes würde seinem Leben gerecht, in dem es so oft auf das Erfassen des „richtigen Augenblicks“ ankam. Der richtige Augenblick, biblisch gesprochen der Kairos, verdichtet die Zeit, zeigt das Übermaß an Gnade an und drängt auch zu einer richtigen Entscheidung zum richtigen Zeitpunkt. Man kann ja den Kairos auch verpassen. Das ganze Leben dieses Menschen war eine Ansammlung von „Kairoi“. Und dies nicht nur deswegen, weil er der erste Papst war, der aus „der Ferne“ kam und der Kirche und der Welt eines der längsten Pontifikate bescherte. Sein Stil war von Anfang an atemberaubend und auch atemraubend, weil sich in seinen Reisen, seinen „Bädern in der Menge“ und dem Ertragen seiner Krankheit die Zeit verdichtete.
Er erkannte den Zeitpunkt für die Begegnung mit anderen, als er Vertreter der Religionen nach Assisi einlud und sich den Vorwurf des Götzendienstes gefallen lassen musste. Als er den Koran küsste, seinen Gebetszettel in die Ritze der Klagemauer hineinpresste, den Weltjugendtag ins Leben rief, das „Schuldbekenntnis“ der Kirche zum Millennium gegen viele Widerstände durchsetzte, seinen Attentäter im Gefängnis besuchte und ihm vergab … diese und viele andere Gesten verdichteten enorme Zeiträume, in denen religiöse Erfahrung reifen konnte.
Bei der Frage des klerikalen Missbrauchs hat er freilich den Kairos verkannt.

Wenn schon vom „Kairos“ die Rede ist: Welche Rolle kommt Johannes Paul II. beim Fall des Eisernen Vorhangs zu?
Als der berühmteste Dissident der damaligen Zeit, Alexander Solschenizyn, von der BBC die Nachricht hörte, dass ein Pole zum Papst gewählt wurde, fing er an zu tanzen und freudig zu schreien: „Dieses Ereignis wird alles verändern!“ Der Einfluss des Pontifikats auf die Selbstwahrnehmung von Menschen in Polen kann wirklich kaum überschätzt werden. Genauso wie die historischen Worte, die er in Warschau bei seinem ersten Besuch 1979  ausrief: „Möge der Geist herabsteigen und das Antlitz der Erde verändern. Dieser Erde!“ Das war der Kairos. Die kommunistischen Machthaber erbleichten. Über die vatikanische Unterstützung der Solidarnosc-Bewegung und auch die Achse Vatikan–Washington sind inzwischen Bände geschrieben worden. Gerade weil der Papst über keine Divisionen verfügte, konnte er kräftig dazu verhelfen, das morsch gewordene System im richtigen Augenblick gewaltfrei zu stürzen.

Dass jemand Papst ist, auch ein starker, macht ihn noch nicht zum Heiligen. Was zeichnet Johannes Paul II. in dieser Hinsicht aus?
An seiner ganzen Lebensgeschichte kann man die Logik des berühmten Wortes von Ignatius von Loyola ablesen: „Nur wenige Menschen ahnen, was Gott aus ihnen machen würde, wenn sie sich ihm ganz überließen.“ Karol Wojtyła war einer dieser Menschen. Knapp 20-jährig traf er den einfachen Schneider Jan Tyranowski. Dieser führte ihn in die Lektüre der mystischen Werke von Johannes vom Kreuz ein. Das Land war damals von den Nazis besetzt. Der junge Karol arbeitete im Steinbruch. Als Kind verlor er die Mutter und den Bruder, bald wird auch sein Vater sterben. Seine jüdischen Kameraden tauchten unter oder fielen den Nazis zum Opfer. Mitten in dieser Orgie des Hasses und der Entwürdigung liest der junge Mann „Die dunkle Nacht der Seele“ des spanischen Mystikers. Der einfache Schneider stärkt sein Vertrauen in den Wert der Heiligkeit im Alltag.

Und Wojtyła findet eine einfache Regel, die fortan sein ganzes Leben regulieren wird: Grenzenloses Vertrauen auf Gott und harte Selbstdisziplin. Das Vertrauen auf Gott wurde bald zur Sicherheit, dass Gott ihn zum Priester berufen hat. Das Studium im Untergrundseminar, das mit der Gefahr der Deportation in ein Konzentrationslager verbunden war (einer seiner Seminarkollegen wurde auch von der Gestapo erschossen), stärkte seinen Glauben, dass er „bloß“ ein Werkzeug in Gottes Händen sei. Und seine spezifische Berufung darin liegt, in den dunkelsten Zeiten der Geschichte Zeugnis von der Würde des Menschen abzulegen. Dieser Berufung hat er sich immer wieder in stundenlangen, meist nächtlichen, Gebeten vergewissert und sein Leben immer wieder restlos Gott anvertraut. Seine persönliche Frömmigkeit überrascht durch Einfachheit. Das fängt beim täglichen „Kindergebet“ zum Schutzengel an, bei seiner Liebe zu Maria (Totus tuus / Ganz Dein – sein Motto kann auf Maria und auf Gott bezogen werden), seiner Verehrung der Heiligen (auch jener, die ihr Leben während der Nazi- und der Kommunisten-Diktatur verloren) und hört bei einer biblisch fundierten Mystik und dem Staunen über Gottes grenzenlose Barmherzigkeit auf.

Und was sagen Sie zu seiner umstrittenen Haltung zur Befreiungstheologie, wo er doch in sozialen Fragen so engagiert war?
Man darf nicht vergessen, dass die ersten Jahre des priesterlichen Wirkens Wojtyłas von stalinistischen Schauprozessen gegen Priester (auch in der Diözese Krakau) überschattet waren. Die von den Kommunisten strapazierte Befreiungsrhetorik ging da Hand in Hand mit einer menschenverachtenden Alltagspraxis. Und natürlich auch mit einem offenen, dann versteckt subtilen Kampf gegen die Kirche. Wojtyła misstraute den Kommunisten. Auch den Marxismus verurteilte er immer schon als gefährliche Ideologie, weil er darin ein falsches Menschenbild erblickte. Seine Wahrnehmung der Befreiungstheologie war immer durch seine Erfahrungen mit den Kommunisten geprägt – und wohl auch verdunkelt. 

Woran lag es, dass der zunächst so populäre Papst im „Westen“, auch in der „westlichen Kirche“, viel an Zustimmung verlor?
Der deutsche Philosoph Max Scheler sagte: „Der Mensch glaubt an Gott oder an einen Götzen. Kein Drittes!“ Wojtyła habilitierte über Scheler und hat seit dieser Zeit die Überzeugung gelebt, dass nur ein Menschenbild, das den Menschen an die Transzendenz (Göttliches) bindet, uns vor der Bestialität schützen kann. Aus seinem Menschenbild hat er sein Engagement für die Menschenrechte abgeleitet. Und auch das harte Urteil über die westliche Kultur als „Kultur des Todes“ gefällt. Weil er in der Konsumkultur des Westens den Verfall der Menschenwürde diagnostizierte. Sein Eintreten für die Heiligkeit menschlichen Lebens vom Augenblick der Empfängnis bis zum Tod machte ihn für „den Westen“ zunehmend „ungenießbar“. Hinzu kam eine Verengung, die ich als Folge seines Engagements für die Heiligkeit des menschlichen Lebens in der Zeit des Kommunismus ansehe. Die Kommunisten haben den Diskurs über die künstliche Empfängnisregelung mit der Frage der Abtreibung verbunden und beides als Inbegriff der Freiheit gepriesen. In dieser Freiheit sah Wojtyła den Angriff auf die Menschenwürde. Dieses Urteil verengte aber seine Sicht auf Sexualität.

Kardinal König und Karol WojtylaKardinal Franz König und Karol Wojtyła
pflegten schon lange vor der Papstwahl gute Beziehungen.
König soll auch einer der „Papstmacher“ gewesen sein.
Die Ernennung seines Nachfolgers war für König
daher eine herbe Enttäuschung.

In Österreich hat er u. a. durch höchst umstrittene Bischofsernennungen viel Kredit verloren. Wie konnte so etwas passieren?
Wie alle „Giganten“, war auch dieser Mensch durch viele mittelmäßige Mitarbeiter und auch Opportunisten, die die rechte Rhetorik beherrschten und ihre Interessen durchboxten, umgeben. Vieles, was daneben gelaufen ist, geht wohl auf deren Konto. Wie alle großen Heiligen (siehe Augustinus) hat aber auch dieser Mann seine Schattenseiten. Sein Nicht-wahrhaben-Wollen des Missbrauchs habe ich angesprochen. Die einseitige Ernennungspolitik wird man wohl auch dazu zählen müssen. Und vieles andere mehr. Auch Heilige sind letzten Endes bloß Menschen.

Was bedeutet diese Heiligsprechung – auch für Sie als Theologen, der aus Polen kam?
Es wird ein Papst heiliggesprochen, der die Menschenrechte als den Weg des Evangeliums für unsere Zeit proklamierte und die Katholische Soziallehre ins Zentrum kirchlicher Lehre rückte. Gnade und Menschenrechte sind ihm untrennbar verbunden gewesen. Und der polnische Dogmatiker ist mit all seinen Landsleuten wohl stolz darauf, dass Gott an ihrem Landsmann „Großes“ getan hat. Polen braucht momentan mehr denn je die Anwaltschaft eines solchen Heiligen.

ZUR SACHE

Johannes Paul II - Klagemauer

Johannes Paul II. war der erste Papst, der sowohl eine Synagoge (Rom, 1986) als auch eine Moschee (Damaskus, 2001) betrat. Seine besondere Beziehung zum Judentum zeigte er auch an der Klagemauer (Jerusalem, 2000). 

Johannes Paul II - Polen

Polen. Bereits wenige Monate nach seiner Wahl (16. Oktober 1978) besuchte der Papst aus Polen zum ersten Mal seine Heimat. Seine Botschaft, man darf Gott nirgendwo ausschließen, wurde zur Freiheitslosung.
Von seinen 104 Auslandsreisen führten ihn neun nach Polen. 

Mutter Theresa und Papst

Mutter Teresa war eine von 1810 Personen, die Johannes Paul II. in seinen mehr als
26 Amtsjahren selig- und heiliggesprochen hat. 

Johannes Paul II - Mea culpa

Das „Mea culpa“ für die Sünden der Kirche im Jahr 2000 beeindruckte viele. 

Fotos: KNA (4), Reuters (2)

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