Zusätzlich zu Allerheiligen und dem Jahresgedächtnis gibt es im Bregenzerwald einen weiteren Gedenktag für die Verstorbenen: den Jahrtag. An einem bestimmten Sonntag im Jahr kommen Familien und Sippen zusammen, besuchen den Gottesdienst und denken intensiv an ihre Lieben, die gestorben sind.

Bild rechts: Die Familie Kaufmann bei ihrem Jahrtag am Grab

Elisabeth Willi

Das Grab von Hermann Kaufmann am Schoppernauer Friedhof ist auffallend schön geschmückt mit einem Gesteck in Herzform und roten Rosen, viele Kirchengänger beten nach dem Gottesdienst bei seiner letzten Ruhestätte, direkt davor stehen seine Ehefrau und seine Kinder - auch seine Tochter Brigitte, die in Raggal wohnt. Dabei ist weder Allerheiligen noch der Todestag von Hermann Kaufmann. Er hat heute seinen Jahrtag.

Der Jahrtag ist das jährliche Gedenken einer Familie oder einer Sippe an ihre Verstorbenen an einem bestimmten Sonntag, quasi ein privates Allerheiligen. Diese Tradition gibt es im ganzen Bregenzerwald. Sie existiert schon seit Jahrhunderten: Das erste Jahrtagsverzeichnis von Schwarzenberg etwa datiert auf 1500, das erste Taufbuch übrigens erst auf 1620.

Der Jahrtag einer Familie/Sippe findet immer am selben Sonntag im Jahr statt, zum Beispiel am vierten Sonntag im Oktober oder am dritten nach Dreikönig. Oft ist dieser Sonntag schon vor Generationen festgelegt worden. Ein wenig aus der Reihe tanzt Schwarzenberg: Dort gibt es vereinzelte Sippen, die ihren Jahrtag während der Woche begehen. In den meisten Pfarreien finden im Sommer keine Jahrtage statt, sondern nur von Oktober bis nach Ostern. In dieser Zeit wohnten früher die Familien im Dorf, während sie im Rest des Jahres im Vorsäß lebten oder einzelne Familienmitglieder im Sommer auf der Alpe.

Intensives Gedenken
Für die Familie Kaufmann ist dieser Tag immer besonders: „Wir denken zwar täglich an meinen Vater, am Jahrtag aber noch intensiver“, sagt Hermann Kaufmanns Tochter Gabriele. Auch andere Verwandte, Bekannte und Freunde erinnern sich an diesem Sonntag vermehrt an den Verstorbenen und besuchen sein Grab.
Eine Woche zuvor wird im Anschlagkasten bekannt gegeben, wer am kommenden Sonntag seinen Jahrtag begeht. In vielen Pfarreien liest der Priester am Gedenktag selbst die Namen zu Beginn der Messe vor. In einigen Pfarren werden spezielle Fürbitten für die Verstorbenen des Jahrtages gesprochen, in anderen sagt der Priester beim Hochgebet: „Wir gedenken aller Verstorbenen, besonders aller Verstorbenen des heutigen Jahrtags.“ Ansonsten wird der Gottesdienst regulär abgehalten. In Schwarzenberg jedoch besteht eine Besonderheit, die es in vielen anderen Gemeinden nicht mehr gibt: Zusätzlich zur normalen Opferung findet zu Beginn des Gottesdienstes ein Opfergang statt, bei dem die Verwandten des Verstorbenen nach vorne gehen.

Familien kommen zusammen
Für viele Bregenzerwälder besitzt der Jahrtag einen besonderen Stellenwert. Selbst Personen, die selten den Gottesdienst besuchen, gehen an diesem Tag zur Kirche. „Von dem her ist der Jahrtag vergleichbar mit hohen Festen wie Weihnachten, Ostern oder Allerheilgen“, meint Pfarrer Armin Fleisch aus Bezau. Ebenso wie an Allerheiligen treffen sich auch am Jahrtag die Familien; Kinder, die schon längst nicht mehr im Dorf leben, kommen an diesem Tag in ihre alte Heimat.
So wie bei Kaufmanns: Brigitte wohnt seit Jahren in Raggal, doch am Jahrtag besucht sie stets den Gottesdienst und das Grab ihres Vaters in Schoppernau. Meistens kehrt die Familie danach ein und isst gemeinsam zu Mittag. „Der Jahrtag ist ein Anlass, damit man sich wieder einmal trifft“, sagt Brigittes Schwester Gabriele. Die beiden haben noch eine Schwester, die in Neapel lebt. Am Jahrtag ihres Vaters ist sie selten in Schoppernau, aber wenn schon, nimmt auch sie an dem besonderen Gedenktag teil.

Weltkirchliche Geschwisterlichkeit
Die Familie, die ihren Jahrtag begeht, bezahlt dafür mindestens ein Mess-Stipendium von sieben Euro, es können aber auch mehr Stipendien sein. Der Priester feiert damit eine Messe für den Verstorbenen und betet, dass er Anteil am ewigen Leben erhält, dass er Fürsprecher für seine Hinterbliebenen bei Gott ist.

Pfr. Armin FleischPfarrer Fleisch (Foto links) leitet einen Großteil dieses Jahrtag-Geldes an Kirchen in Südamerika oder an bekannte Priester in armen Ländern weiter. Er erklärt: „Dadurch kommt es zu einem Akt weltkirchlicher Geschwisterlichkeit und einer sinnvollen Form von geistiger Verbundenheit zwischen Spendern und Empfängern. Der Priester in Südamerika, der das Mess-Stipendium erhält, ist nicht länger allein der Empfangende, denn er schließt die Spender in seine Gebete ein und wird so selber zum Gebenden.“

Mess-Stipendien

Die Praxis von Mess-Stipendien stößt immer wieder auf Unverständnis. Weshalb soll für die Eucharistie - ein Sakrament - Geld bezahlt werden? Dazu meint Pfarrer Armin Fleisch: „Die ersten Christen brachten zum Gottesdienst Brot, Wein und andere Gaben mit, und zwar für die Feier, den Unterhalt des Priesters sowie Bedürftige. Mit der Zeit wurden die Namen der Lebenden und Verstorbenen genannt, derer besonders gedacht werden sollte. Das mitgebrachte Opfer wurde allmählich als Gabe für dieses Nennen verstanden. Gleichzeitig sahen die Priester die Gaben als Beitrag für ihren oft geringen Lebensunterhalt.

Die Regelungen des gegenwärtigen kirchlichen Rechtsbuches gehen auf diese Entwicklung zurück. Priester können Stipendien annehmen und verpflichten sich, eine Messe nach Meinung des Stipendiengebers zu feiern, wobei jeder Priester täglich nur ein Stipendium einer einzigen Messe behalten darf. Alle darüber hinausgehenden Stipendien muss er weiterleiten.

Bei uns leben Priester nicht mehr von Mess-Stipendien, aber in den Kirchen anderer Kontinente sind sie darauf angewiesen. Durch das Weiterleiten wird das, was in den ersten Jahrhunderten üblich war, nämlich durch Gaben für den Unterhalt von Priestern zu sorgen, in einer sinnvollen Weise fortgesetzt.“