Was hat die Schuldenkrise von heute mit dem biblischen Zinsverbot von damals zu tun? - Dr. Wilhelm Guggenberger ist Sozialethiker und nimmt zum wichtigsten Wirtschaftsthema der letzten Monate Stellung.

Dr. Wilhelm GuggenbergerAo. Univ.-Prof. Dr. Wilhelm Guggenberger
ist Sozialethiker am Institut für Systematische Thologie
der Universität Innsbruck

zum Bild rechts: Protest. Mitglieder der "Occupy"-Bewegung campierten im Oktober 2011 in Zelten vor den Bürotürmen der Europäischen Zentralbank in Frankfurt a.M. Einer ihrer Slogans: "Wir wollen nur unser Leben zurück! Plus Zinsen."

Sowohl im 3. Buch Mose als auch im NT bei Lukas (6,35) finden sich Hinweise für ein religiöses Zinsverbot, das über die Jahrhunderte auch im christlichen Abendland Geltung hatte. Was hat die Finanz- und Schuldenkrise von heute mit dem biblischen Zinsverbot von damals zu tun?

Geld bringt kein Geld hervor! Dies galt in der mittelalterlichen Philosophie als Grundsatz, der sich auf den Gelehrten der Antike schlechthin, nämlich auf Aristoteles berufen konnte. Da Geld ein menschengemachtes Ding ist, das keine Lebenskraft in sich trägt, konnte Aristoteles nicht einsehen, wie es sich aus eigener Kraft vermehren sollte. Der Gedanke an Zins erschien ihm daher widernatürlich. Freilich war auch der vorchristlichen Zeit die Praxis des Geldverleihs gegen Zins bekannt. Die genannten philosophischen Gründe ließen diese jedoch als ungerecht erscheinen.

Zins und Religion
Auch alle drei monotheistischen Religionen kennen Zinsverbote. Geldkredite werden dabei als etwas verstanden, das Überleben sichern soll. Der Schuldner leiht Geld, weil er zum Beispiel aufgrund einer Missernte sich und seine Familie nicht anders ernähren kann. Geliehen wird, um irgendwie über die Runden zu kommen, wodurch das Geld freilich aufgebraucht wird, ohne über die Lebenserhaltung hinaus einen Nutzen oder Gewinn zu bringen. In einer solchen Situation Zins zu nehmen, bedeutet praktisch immer, die Notlage des anderen auszunützen und selbst Vorteil daraus zu schlagen. Das verbieten die jüdischen Gesetze (Ex 22,24; Lev 25,36f; Dtn 23,20f), im Anschluss daran auch die christliche Tradition. Die muslimische Praxis hält bis heute am Zinsverbot fest. Was aber ist daraus in der katholischen Kirche geworden?

Kirchliche Bewertung
Das Kirchliche Gesetzbuch von 1917 sah noch eine Strafandrohung für Wucher vor, auch wenn es Katholiken das Nehmen von mäßigem Zins erlaubte. Im Codex des kirchlichen Rechts von 1983 findet diese Thematik keine Erwähnung mehr. Wie kommt es, dass eine kirchliche Tradition einfach vergessen, beziehungsweise sang- und klanglos aufgegeben wurde? Zweifellos hat sich bereits durch die gesamte Neuzeit hindurch gezeigt, dass das biblisch fundierte Gebot immer weniger mit der Lebenspraxis der Menschen in Übereinstimmung zu bringen war. Dies allein wäre wohl kein Grund zur Veränderung der Norm. Tatsächlich hatte sich aber ein sachlicher Wandel vollzogen, der eine neue Bewertung der Frage notwendig erscheinen ließ.

Das Wozu des Kredits
Die biblischen Texte hatten im Wesentlichen von etwas gesprochen, das wir heute Konsumkredit nennen. Investitionskredite waren gar nicht ins Blickfeld gekommen. Mit der Entstehung einer immer mehr am Geld orientierten Wirtschaft und eines darauf aufbauenden Bankwesens lag die Sache nun freilich anders. Geld wurde immer öfter geliehen, um es gewinnbringend in eine Unternehmung zu investieren, sei es in Gebäude oder Gerätschaften, die dem Gewerbe dienten oder auch in Waren, die über weite Distanzen oder gar die Weltmeere transportiert werden mussten, dafür aber eine große Handelsspanne garantierten. Dass ein Gläubiger etwas vom derart erzielten Gewinn abbekommen wollte, erschien nun keineswegs als Unrecht, das der Ausbeutung der Notleidenden gleich gekommen wäre. Ein Zinsverbot, das auch diese Form des Geschäftes umfasste, war nun kaum noch zu rechtfertigen.

Chance und Übel
Heute freilich stehen wir vor einer wiederum veränderten Situation. Die Zinspraxis ist nun vielfach nicht deshalb problematisch, weil sie einen Kreditnehmer übervorteilen würde, sondern aufgrund der Dynamik, die sie in das gesamte Wirtschaftssystem bringt. Kredite als geliehenes Fremdkapital ermöglichen Wachstum, sie nötigen aber auch dazu. Da beinahe jede unternehmerische Tätigkeit mit Verschuldung beginnt, muss im wirtschaftlichen Tun nicht nur jenes Geld erwirtschaftet werden, das den Kauf von Produktionsmitteln und Arbeitskraft ermöglicht und nicht nur jenes, das den Unternehmerlohn sichert, sondern auch noch jenes, das die Bedienung der Kredite erlaubt.

Wachstum um jeden Preis?
Mag in modernen Gesellschaften Wachstum noch so sehr als Allheilmittel ersehnt werden, mag das Streben nach immer mehr noch so tief in der menschlichen Natur verankert sein, so haben wir heute doch in immer schmerzhafteren Lektionen zu lernen, dass Wachstum auch unser Ruin sein könnte. Die Zinswirtschaft leistet einen nicht unerheblichen Beitrag zu jenem Wachstumszwang, der uns zu Produktions- und Konsumsteigerung auch dort drängt, wo der Bedarf im Grunde längst befriedigt und neuer Bedarf künstlich erzeugt werden muss.

Was steckt hinter dem Geld?
Die Idee des Geld heckenden Geldes, wie Karl Marx es genannt hat, hat aber auch noch eine andere Wirkung. Sie nährt das Wunschbild vom Reichtum ohne Mühe; ist es doch das Geld, das für uns arbeitet. Wie von Wunderhand vermehrt es sich, entsteht in der Kreditschöpfung gleichsam aus dem Nichts und wächst mit der Zeit; im Zinseszins sogar exponentiell. Diese Vorstellung übt auf uns, die wir uns in der westlichen Welt seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs an weitestgehend stabile Währungen gewöhnt haben, eine enorme Faszination aus. Das Geldgeschäft wird daher immer attraktiver. Hier lässt sich auch wirklich etwas verdienen.

Dass hinter dem Geld immer ein realer Wert stehen muss, der ihm Glaubwürdigkeit verleiht, der kreditwürdig macht, geriet dabei zusehends in Vergessenheit. Grund und Boden, landwirtschaftlicher Ertrag, technische Produktionsmittel, Immobilien, Wirtschaftsleistung, Know-how, menschliche Arbeit: zumindest etwas davon muss durch Papier- oder Buchgeld symbolisiert werden, soll dieses nicht völlig Schall und Rauch sein. Doch immer öfter stand in jüngster Vergangenheit hinter Geld nur wieder Geld und der blinde Glaube, es werde schon irgendwie gedeckt sein. Die realwirtschaftliche Basis geriet mehr und mehr in Vergessenheit. In der relativ kurzen Geschichte der modernen Geldwirtschaft hat solches Verhalten immer wieder zu Blasenbildungen und dem unausweichlichen Platzen dieser Blasen geführt. Das Tragische daran: Diejenigen, die am wenigsten von der vorausgehenden Gelddynamik profitieren konnten, werden meist am härtesten von ihrem Kollaps getroffen.

Zinsverbot heute
Was folgern wir daraus? Ein Zinsverbot in seiner überlieferten Form ist heute wohl nur noch in bestimmten Bereichen (etwa Verschuldung der ärmsten Länder) rechtfertigbar. Der Geist des biblischen Zinsverbotes, der auf Gerechtigkeit hin ausgerichtet ist und vor einer Vergötzung des Geldes bewahren soll, dürfte aber aktueller sein denn je.