Wir kennen sie von den Brockenhäusern und vom Sunnahof, von der Haussammlung und von den Werkstätten. Wie die Lebenshilfe Inklusion konkretisiert und in welche Richtung ihre Zukunft geht, davon erzählt Michaela Wagner-Braito im KirchenBlatt-Gespräch.

Patricia Begle

Die Lebenshilfe Vorarlberg wird 50. Was als Verein und zwei „beschützenden Werkstätten“ begonnen hat, ist heute ein Unternehmen mit 60 Standorten. Gewandelt hat sich die Institution nicht nur in organisatorischer Hinsicht, sondern auch in ihrer inhaltlichen Ausrichtung. „Früher ging es um ‚Integration‘“, erläutert Michaela Wagner-Braito, Geschäftsführerin der Lebenshilfe Vorarlberg, „aber Menschen mit Behinderungen sind schon Teil der Gesellschaft, sie müssen nicht ‚irgendwo hineinintegriert‘ werden.“

Selbstbestimmt leben
Inklusion ist heute das Anliegen. Wagner-Braito übersetzt das viel zitierte Wort mit „Miteinander“. „Unser Ziel ist es, Menschen mit Behinderungen auf einem sehr selbstbestimmten Weg zu begleiten und sie zu unterstützen. Gleichzeitig geht es uns darum, Brücken in die Gesellschaft zu bauen und diese für bestimmte Themen zu sensibilisieren.“

Arbeiten
Arbeit ist dabei einer der Hauptschwerpunkte. „Es gibt ganz viele Arbeiten, die von Menschen mit Behinderungen gemacht werden können“, weiß Wagner-Braito. Diese Erkenntnis beruht auf der Erfahrung, die die Werkstätten der Lebenshilfe mit Arbeitsleistungen für Vorarlberger Betriebe machen. Hier gelten klare Regeln, die Arbeiten müssen fehlerfrei und termingerecht ausgeführt werden. Es funktioniert.

Öffnung des Arbeitsmarktes
Der Weg hin zur Inklusion bedeutet allerdings, dass der Zugang zum allgemeinen Arbeitsmarkt erleichtert werden müsste. Damit die Menschen die Wahl haben, in oder außerhalb der Werkstätten zu arbeiten. Bei der Schaffung solcher Arbeitsplätze wird natürlich ressourcenorientiert gedacht: die Tätigkeit wird den Fähigkeiten des Arbeitnehmers entsprechend entwickelt. Durch eine Entlohnung sollten die Menschen heraus aus der „Taschengeld-Gesellschaft“ kommen und auch pensions- und krankenversichert sein. Auf dem Weg zum allgemeinen Arbeitsmarkt bietet die Lebenshilfe verschiedene Modelle. Die Gemeinde Langenegg ist ein Beispiel dafür. Dort leisten Menschen mit Beeinträchtigungen Unterstützung bei Gemeindearbeiten. Oder der Gemeinschaftsgarten in Bezau: hier gehören Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen zum Garten-Team. Ganz selbstverständlich.

Wohnen
Ein weiterer Schwerpunkt der Lebenshilfe Vorarlberg ist das Wohnen. Auch hier geht die Entwicklung neue Wege: Modelle werden konzipiert, die es Menschen mit Beeinträchtigungen ermöglichen, dort zu wohnen, wo auch Menschen ohne Beeinträchtigungen dies tun. In Mittelberg zum Beispiel wird derzeit eine Wohnanlage mit 39 Wohnungen gebaut. Sieben davon werden so gestaltet, dass sie den Bedürfnissen von Menschen mit Beeinträchtigungen entsprechen. Zudem wird ein Pflegebad eingerichtet. Dieses ist größer und verfügt über eine Badewanne mit Lift. Außerdem wird eine Wohnung für eine Begleitperson seitens der Lebenshilfe zur Verfügung gestellt.

Selbstbestimmt teilhaben
Dass der Bedarf an solchen Wohnungen gegeben ist und auch wächst, zeigt sich in vielen Gesprächen mit Menschen mit Beeinträchtigungen und deren Angehörigen. Zahlreiche Eltern stoßen an ihre Grenzen bei der Begleitung ihrer Kinder, weil sie schon höheren Alters oder manchmal auch gesundheitlich nicht mehr so fit sind. „Das ist jetzt nach dem Zweiten Weltkrieg die erste Generation an alten Menschen mit Behinderungen. Wie bei allen anderen Menschen, kommen auch bei Menschen mit Beeinträchtigungen die altersbedingten Themen dazu“, erklärt Wagner-Braito. „Uns ist wichtig, dass man immer auf die Bedürfnisse der Menschen hört, auch im Alter. Sie sollen selbstbestimmt entscheiden können, wo und wie sie leben wollen“, so Wagner-Braito.
Die Selbstbestimmung zeigt sich auch in der Arbeit der Selbstvertreter/innen. Seit zehn Jahren werden sie von Menschen mit Beeinträchtigungen gewählt und setzen sich aktiv für deren Anliegen ein - nach dem Motto „Nichts über uns, ohne uns!“ Daran wird erkennbar, dass sich auch das Selbstverständnis und Selbstbewusstsein von Menschen mit Behinderungen verändert hat.

Jubiläen 
Dieses Selbstbewusstsein wurde beim Festakt am 1. Juni spür- und sichtbar. Insbesonders bei den Darbietungen der „Happy Drummers“ der Lebenshilfe-Fachwerkstätte Schwarzach sowie der inklusiven Tanzgruppe des Tanzhauses Hohenems. Auch dieses feiert heuer sein 10-jähriges Jubiläum. So sind es im Jahr 2017 gleich drei Jubiläen, die in Vorarlberg begangen werden: 50 Jahre Lebenshilfe Vorarlberg, 10 Jahre Selbstvertretung und 10 Jahre Tanzhaus Hohenems. Die Präsidentin der Lebenshilfe, Gabriele Nußbaumer, blickte an diesem Abend nicht nur in die Vergangenheit, sondern auch in die Zukunft: „Wir sehen unsere Aufgabe auch zukünftig darin, die Umsetzung der Inklusion weiter voranzutreiben und Brücken in die Gesellschaft zu bauen. Die Lebenshilfe Vorarlberg ist wie eine große Familie, in der das ‚Mitanand‘ wesentlich ist, und so werden wir niemanden im Stich lassen.“

ZAHLEN UND FAKTEN

  • 1.000 Menschen mit Behinderungen werden  von 829 Mitarbeiter/innen (in Köpfen) begleitet, das sind etwa 570 in Vollzeit
  • Rund 600 ehrenamtlich Engagierte
  • 60 Standorte in ganz Vorarlberg
  • 1 Verein: Lebenshilfe Vorarlberg, Interessensgemeinschaft für Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung
  • 3 Tochtergesellschaften: Lebenshilfe Vorarlberg GmbH, Sunnahof (Biobauernhof mit Tischlerei und Gärtnerei), Integratives Ausbildungszentrum (an drei Standorten erhalten junge Menschen eine berufliche Ausbildung)
  • Unterstützungsangebote in den Bereichen Familie, Arbeit, Wohnen und Freizeit
  • Akademie der Lebenhilfe Vorarlberg (sorgt in unterschiedlichen Formen für Weiterbildung und Bewusstseinsbildung)

Tag der offenen Werkstätten

Fr 23. Juni 2017
in allen 26 Werkstätten, Fachwerkstätten, Brockenhäusern und lebens.ART Geschäften der Lebenshilfe Vorarlberg
www.lebenshilfe-vorarlberg.at