Im Rahmen zweier Vorträge (Propstei St. Gerold und Kolpinghaus Dornbirn) referiert Prof. Dr. Paul Zulehner zum Thema „Kirchenvisionen“. Im KirchenBlatt-Gespräch erzählt er von der Kraft der Visionen und hebt die Vorreiterrolle der Diözese Feldkirch in Sachen „Strukturprozess“ bzw. neue Gestalt der Kirchen hervor.

zu: zur Person - Paul Zulehner

Wolfgang Ölz

Was erwartet die Zuhörer bei den Vorträgen in St. Gerold und Dornbirn?
Jeder spürt heute, dass die Kirche in einer tiefen Umbruchszeit steckt. Die Zeiten sind vorbei, dass vor allem auch für die jungen Leute die Teilnahme am Leben der Kirche selbstverständlich ist. Heute kommt es darauf an, dass jemand eine persönliche Überzeugung findet und starke Motivationen hat. Diese Motivation bei Jungen wie bei Alten kommt aus der unverbrauchten Kraft des Evangeliums oder, wie es im Buch Samuel heißt, aus Visionen, die Gott selber in die Herzen der Menschen hineinlegt. Mir geht es zunächst darum, diese Visionen aufzudecken, die einzelne Menschen in sich tragen und die dann die Kraft hergeben zu sagen, okay, wenn Gott mich braucht, mache ich in der Kirche mit, damit sie leben und wirken kann.

Was haben Sie da konkret für Visionen vor sich?
Da sind zunächst die Visionen, die in den Leuten drinnen sind. Mein erster Schritt ist zu sagen, jede/r hat Visionen in sich, die wir noch gar nicht kennen, da muss jede/r zunächst bei sich selber nachschauen. Dann sage ich in einem zweiten Schritt, dass diese ganz persönlichen Visionen auch verschattet sein können, dass wir sie voneinander zu wenig kennen, und dass wir sie immer stärker auch an das Evangelium zurückbinden müssen.
So wie Franziskus, unser Bischof von Rom, unentwegt, wie der heilige Franz selber, sagt, wir sollen das „Evangelium ohne Abstriche“ leben. Da greife ich auf alte Bilder zurück, die die Kraft des Evangeliums noch stark in sich tragen, und die uns helfen können, die Visionen zu läutern und zu klären.

Können Sie eine Vision aus dieser Anfangszeit nennen?
Da ist zum Beispiel das Bild, das Clemens von Alexandrien um 190 n. Chr. im Mythos von Orpheus und Eurydike beschreibt, wo der Spielmann, der Eurydike liebt, sie verliert und dann in die Unterwelt steigt. Genau dasselbe, so Clemens von Alexandrien, geschieht bei Christus, der die Menschheit liebt und in die Unterwelt, in den Tod geht, um, so wie Orpheus Eurydike, die Menschheit wieder zurück in das Leben zu führen. Der griechische Orpheus ist freilich gescheitert, während Christus mit der Menschheit an ein gutes Ende kommt.
Eine weitere Vision ist die vom Erbarmen des Vaters für seine zwei verlorenen Söhne. Papst Franziskus selber betont ja auch, dass das Entscheidende, was die Kirche der Menschheit von heute geben muss, nicht moralische Anleitungen sind, sondern, dass man dort, wo man scheitert, nicht das Gefühl bekommt, das scheidet einem von der Kirche, sondern da hat Gott Erbarmen mit mir. Die Kirche lehrt mich aushalten, dass ich Fehler mache und trotzdem ein Mensch bin, den der „unbeirrbar treue Gott“ (Dt 32,4) liebt.

Gehen Sie für diese Visionen in Österreich von einer geringeren Menge von Menschen aus?
Meine Vorstellung ist, wir werden zwar weniger, aber dadurch werden wir zugleich stärker. Dieser Weg liegt vor uns. Wenn wir, wie Jesus sagt, Licht und Salz sind, und nicht mehr ein Ort, wo alle Geretteten erfasst werden müssen, welche Bedeutung haben wir dann für das Heil aller? Ich traue es Gott zu, dass Gott das Heil aller Menschen erreichen wird; dann aber stellt sich die Frage, wie schaut der Weg zum Heil etwa mit einem Atheisten aus, wie kann er – mit Jesus gesprochen – ein liebender Mensch sein. Denn wer wahrhaftig liebt, ist auf dem Weg des Heils.  

Gibt es vergleichbare Situationen für die Kirche in der Geschichte?
Die Situation der Kirche in Europa ist einmalig; sie kommt aus dem Untergrund, war verfolgt, wurde Staatskirche und es gelingt im Zusammenspiel von Thron und Altar, dass Europa durchmissioniert ist, und zwar durch das Zusammenspiel beispielsweise der Kaiserin Theresia mit dem Erzbischof von Wien. Da war die Religion eindeutig Schicksal, und just diese Zeit geht zu Ende, wo man von Geburt an Christ war und in Österreich keine andere Chance hatte als ein Katholik zu sein oder man wurde ins Jenseits oder ins Ausland ausgewiesen. Heute hingegen müssen sich die Leute entscheiden, ob ihnen das Evangelium für ihr Lebensdesign wichtig ist. Die Aufgabe der Kirche ist es, den Leuten vorzuleben und zu sagen, es lohnt sich auf dem Weg der solidarischen Liebe zumal zu den Armen zu gehen.      

Welche Impulse aus Bibel und Kunst können zu diesen Visionen verhelfen?
Ich meditiere zum Bespiel auch in meinen kommenden Vorträgen die Heilung eines Aussätzigen (Mt 8,1-4), und zwar an Hand eines Bildes eines Buchmalers von der Insel Reichenau. Da geht Jesus zuerst auf den Berg, um in die Tiefe Gottes einzutauchen und am Morgen geht er herunter und heilt den Aussätzigen. Wer aus der Tiefe Gottes kommt, dessen erste Adresse ist der „Aussätzige“, also der Mensch, der es schwer hat, Mitglied einer Gemeinschaft zu sein, den man schneidet, hinausdrängt, so wie Geschieden-Wiederverheiratete, wie Homosexuelle, Ausländer. Die Kirche ist immer eine, die vorrangig an der Seite der Armen und Fremden auftaucht. Das will uns auch der neue Papst Franziskus in Erinnerung rufen.

Wie beschreiben Sie Papst Franziskus?
Der Papst ist Jesuit und Franziskaner in einem. Ich hoffe daher, dass er als Anhänger des Franz von Assisi die Kirche auf den Weg der Bescheidenheit und des starken Dienens konsequent weiterführt. Er ist einer der sagt, die Kirche gehört in die Favelas, also dorthin wo die Schwächeren sind. Was ich mir gleichzeitig erhoffe ist, dass er Jesuit bleibt, und damit dem Ganzen auch eine gute Ordnung gibt, in der das Evangelium von der Kirche nicht erdrückt, sondern zum Blühen gebracht wird.

Was erwarten Sie sich im Umfeld von Österreich für Anstöße von der Kirche?
Im wunderschönen Ländle, in der Diözese Feldkirch ist die Kirche in einer privilegierten Situation. Ich verfolge das Pastoralgespräch schon lange, und ich habe den Eindruck, dass Vorarlberg gleichsam die Vorhut in einer guten Entwicklung ist.
Bei der pastoralen Entwicklung in Vorarlberg ist nicht der Priestermangel im Vordergrund gestanden, sondern die Vision zu fragen, wer sind wir heute als Kirche in diesem Land und was können die Leute für Hoffnung schöpfen, wenn wir als Kirche gut präsent sind. Das meine ich, wenn ich sage, dass die Diözese Feldkirch auf einem guten Weg ist. Die Ermutigung heißt nun,  mit diesem Rückenwind aus Rom diesen Weg zügig weiterzugehen und auch die nächste Generation mit dem Heiligen Geist zu infizieren. Denn es lohnt sich wirklich in diesem Juwel Gottes, der Kirche, mitzuarbeiten. 

Welche Präferenzen haben sie für den Strukturprozess in der Diözese Feldkirch?
Es gibt in modernen Kulturen eine unglaubliche Vielfalt. Deshalb finde ich die Erkenntnis wichtig, dass man mit einem Kirchturmdenken heute nicht mehr das Auslangen findet. Das gläubige Leben braucht zwar lokale Wurzeln, aber Christgläubige vernetzen sich auch miteinander, um in einem größeren Raum besser präsent zu sein. Was ich in Vorarlberg auch sehr stark antreffe ist das Wissen, es kann nur im Wechselspiel zwischen oben und unten unter maximaler Beteiligung der Betroffenen, die unter einer guten amtlichen Führung stehen, reformiert werden. Da ist Vorarlberg ein Vorbild für andere Diözesen.   

ZUR PERSON

Paul M. Zulehner
geb. 1939 in Wien, Priesterweihe 1964 (Erzdiözese Wien). Kaplan und Subregens im Wiener Priesterseminar.

Paul M. Zulehner ist Theologe und katholischer Priester. Er gehört zu den bekanntesten Religionssoziologen Europas. Zulehner ist seit Oktober 2008 emeritiert, aber weiterhin in der Wissenschaft aktiv tätig.

Buchtipp:
Kirchenvisionen: Orientierungen in Zeiten des Kirchenumbaus, Patmos Verlag, E 12,90

Vorträge:
Do 12. September, 20 Uhr, Kolpinghaus, Dornbirn.
Fr 13. September, 19.30 Uhr, Propstei St. Gerold.

 

Wissenschaftlicher Werdegang:

  • Studien der Philosophie (Dr. phil. 1961), der katholischen Theologie (Dr. theol. 1965) und der Religionssoziologie in Innsbruck, Wien, Konstanz und München. Schüler von Johannes Schasching und Karl Rahner.
  • Habilitierung für Pastoraltheologie und Pastoralsoziologie in Würzburg (Rolf Zerfaß, 1973).
  • Seit 1984 auf dem weltältesten (gegründet 1774) Lehrstuhl für Pastoraltheologie in Wien.
  • 2000-2007 Dekan der Fakultät.

Mitgliedschaften, Auszeichnungen und Wissenschaftliche Preise:

  • Kunschakpreis, Rennerpreis, Innitzerpreis.
  • Alexander-von-Humboldt-Stipendium der Deutschen Bundesregierung: Studien in Konstanz (Thomas Luckmann) und München (Karl Rahner).

  • 1985-2000 Theologischer Berater des jeweiligen Vorsitzenden des Rates der Konferenz der Europäischen Bischofskonferenzen.
  • 1987-1999 Beiratsmitglied in der Österreichischen Forschungsgemeinschaft.
  • Mitglied der Europäischen Akadmie der Wissenschaften
  • Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.