Zum 68. Mal wurden heuer im August beim Filmfestival von Locarno die Preise vergeben. Der Goldene Leopard für den besten Film ging dabei an den Koreaner Hong Sangsoo für «Right Now, Wrong Then“. Mit formaler Perfektion erzählt er mit kleinen Abweichungen zweimal dieselbe Geschichte um die Begegnung eines Regisseurs mit einer jungen Malerin. Manche Passagen sind dabei durchaus charmant und einige Dialoge zum Schmunzeln, für den Hauptpreis stellt er aber doch ein ziemliches Leichtgewicht dar.

Klaus Feurstein

Mehr zu packen, aufzuwühlen und zu verstören - sowohl durch die formale Geschlossenheit als auch durch thematischen Tiefgang - verstand Avishai Sivans „Tikkun“ aus Israel, der mit dem „Spezialpreis der Jury“ ausgezeichnet wurde. Erzählt wird die Geschichte des ultra-orthodoxen jüdischen Studenten Haim-Aaron, der durch exzessives Fasten und nächtelanges Lernen einen Kollaps erleidet und von den Ärzten für tot erklärt wird. Sein Vater akzeptiert das nicht und bringt ihn durch anhaltende Reanimation wieder ins Leben zurück.
Doch dieses zweite Leben entfremdet Haim-Aaron von seinem Glauben, und außerhalb der gewohnten religiösen Ordnung verliert er den Boden unter den Füßen und wird zum „Verlorenen im Nebel der Welt“. Sein Vater befürchtet, mit der Rettung seines Sohnes gegen Gottes Willen gehandelt zu haben und in seiner Überlegung, den Sohn dafür töten zu müssen, klingt das Motiv des Abraham-Isaak-Opfers an. Der Film gibt einen faszinierenden Blick auf das ultra-orthodoxe Judentum frei und setzt die Geschichte formal in streng komponierten, statischen Kameraeinstellungen und überwältigenden Schwarz-Weiß-Bildern um. „Tikkun“ wurde von vielen Filmjournalisten als Favorit gehandelt.

Die Ökumenische Jury. Die kirchliche Jury zeigte mit ihrem Preisträger „Paradise“, dem Erstlingswerk des Iraners Sina Ataeian Dena, wieder ein gutes Gespür für filmische Kunst und aktuelle Themen. Im Mittelpunkt des Geschehens steht die junge Primarlehrerin Hanieh. Sie arbeitet in einem trostlosen Vorort Teherans und muss jeden Tag einen langen Arbeitsweg zurücklegen. Deshalb möchte sie sich ins Zentrum der Stadt versetzen lassen. Doch ihr Antrag steckt irgendwo in der Bürokratie fest. Eines Tages werden in der Schule zwei Mädchen vermisst, die womöglich entführt wurden. Angesichts dieses Ereignisses werden die Probleme der jungen Lehrerin relativiert.
Der Film, der unter erschwerten Bedingungen heimlich gedreht wurde, konzentriert sich auf Alltagsszenen in der Schule, Haniehs Rolle als Lehrerin und die Arbeit der Schulleiterin. Beide sind Teil des Systems und setzen dessen Regeln und Werte gegenüber den Schülerinnen durch - allerdings nicht gnadenlos, sondern mit einem gewissen (vielleicht weiblichen) Gespür für die Nöte und das Empfinden der Kinder. Wie der Regisseur aber die Mechanismen der institutionellen Gewalt offenlegt, ist beeindruckend.
Die Jury begründete die Vergabe des Preises wie folgt: „Ein starker, mutiger iranischer Film über das tägliche Leben … in den südlichen Vororten von Teheran. Dank spärlichen Freiheitsmomenten lassen sich trotz der einschnürenden Verhältnisse, welche iranische Frauen erdulden müssen, Hoffnungszeichen erahnen.“ (Redaktion Medientipp 34/15)

Der Nazijäger. Der Publikumspreis ging an den deutschen Film „Der Staat gegen Fritz Bauer“ von Lars Kraume. Sehr beeindruckend zeigt er darin die Bemühungen des im Titel benannten Generalstaatsanwalts, im Jahr 1957 den früheren SS-Kriegsverbrecher Adolf Eichmann, der sich in Argentinien versteckt hält, vor Gericht zu bringen. Dabei hat er (fast) alle politisch Mächtigen gegen sich, die schon damals einen Schlussstrich unter die Vergangenheitsbewältigung ziehen wollten, weil zu viele Nazis wieder in Führungspositionen das gesellschaftliche Leben bestimmten. Der Film ist bereits der zweite in Jahresfrist (nach „Im Labyrinth des Schweigens“), der sich der schwierigen juristischen Aufarbeitung von Naziverbrechen in einer von Verdrängung geprägten Nachkriegszeit widmet.

Pardo d´onore. Den Ehrenpreis für sein Lebenswerk erhielt die amerikanische Regielegende Michael Cimino. Das Publikum bekam deshalb die Möglichkeit ihn selber und  so großartige Filme wie „Heaven´s Gate“ (1980) oder „The Deer Hunter“ (1978) auf einer riesigen Leinwand noch einmal zu genießen. Locarno hat mit seiner beachtlichen Vielfalt und den Projektionen auf der wunderbaren Piazza Grande wieder überzeugt.

Kino und Religion

Religiöse Themen waren in Locarno zwar nicht beherrschend, aber präsent. Das Judentum wurde in der Variante der Ultra-Orthodoxen kritisch betrachtet, ebenso der Islam im iranischen „Paradise“, während ein nicht prämierter Wettbewerbsbeitrag aus Sri Lanka den Buddhismus als Alternative zur Brutalität des täglichen Lebens zeigte.
In „Histoire de Judas“ wird die Jesusgeschichte fast dokumentarisch, aber inhaltlich verändert erzählt: Judas kann nicht der Verräter gewesen sein – der Film verschafft ihm ein Alibi, lässt aber das Publikum etwas ratlos zurück.