In den nächsten Jahren wird laut Weltgesundheitsorganisation die Zahl der Menschen, die an Demenz leiden, drastisch steigen. Der Soziologe Reimer Gronemeyer widmet sich in seinem neuen Buch diesem Thema und tritt dafür ein, dass die Gesellschaft vor allem humane Antworten auf das Phänomen Demenz finden muss.

Der Hamburger Reimer Gronemeyer (Bild rechts)
beschäftigt sich seit 30 Jahren mit den Themen Demenz,
Palliativ-Medizin, Hospizbewegung und Aidsbekämpfung.
Der evangelisch-lutherische Theologe und Soziologe
war lange Zeit Pfarrer in Hamburg.
Seit 1975 ist Gronemeyer Professor für Soziologie
an der Justus-Liebig-Universität in Gießen.

Interview: Susanne Huber

Sie sagen, die Demenz könnte eine der großen sozialen Herausforderungen in Europa werden. Dabei ist weniger der medizinische Bereich als vielmehr die soziale Akzeptanz wichtig. Warum? 
Reimer Gronemeyer: Wir leben in einer Gesellschaft, die ungeheuer vergesslich und beschleunigt geworden ist, in einer Single-Gesellschaft, die auf den anderen nicht mehr achtet, die von der Löschtaste lebt. Es wäre für uns viel wichtiger zu schauen, was uns die Menschen mit Demenz mitteilen, anstatt  sie zum Arzt zu schicken. Es gibt natürlich diese gewaltige Anstrengung, die Demenz in die Krankheitsecke zu treiben, weil wir das Phänomen dann los sind und wir nicht mehr darüber nachdenken müssen, was die Demenz mit uns zu tun hat.

Die Demenz ist also ein Spiegel der Gesellschaft ...
Reimer Gronemeyer: Die Demenz ist ein Schlüssel zum Verständnis unserer Gegenwart, ein Gradmesser für die Humanität und für die Erinnerungslosigkeit unserer Gesellschaft, der nichts anderes mehr einfällt, als die Versorgungsmaschinerie anzuwerfen. Ich glaube, dass wir damit Schiffbruch erleiden werden. Zum einen kann die Medizin zwar diagnostizieren. Aber es gibt keine wirksamen Medikamente, die nachweislich eine Besserung oder Heilung der Demenz bringen. Zum anderen wird die Versorgungsmaschinerie immer drastischer ausgebaut, weil in Zukunft die Familie immer weniger bereit sein wird, die Pflege für ihre Angehörigen zu übernehmen. Gleichzeitig werden die Versorgungsapparate immer teurer. Das lockt natürlich zu inhumanen Lösungen.

Denken Sie da an den immer größer werdenden Markt von osteuropäischen Billigpflegeheimen?
Reimer Gronemeyer: Ja, aber auch in Thailand hat z. B. ein Schweizer ein Heim für Menschen mit Demenz aufgebaut. Er sagt, dort ist besseres Klima, es kostet alles viel weniger, die thailändische Kultur hat einen tief verwurzelten Respekt vor dem Alter. Aber man muss sich fragen, was ist das für eine Antwort unserer Gesellschaft auf das Thema Alter, Pflegebedürftigkeit und Demenz, wenn wir diese Menschen exportieren? Mir scheint, das ist eine verzweifelte und Menschen kränkende Antwort. Wir müssen anfangen darüber nachzudenken, zivilgesellschaftliche Wege und Lösungen zu finden, auch wenn das ganz schwierig ist.

Welche neuen Wege könnten das sein?
Reimer Gronemeyer: Es gibt keine Rezepte, aber viele Wege, die von der Basis kommen müssen. Wenn sich ein alter Herr nicht mehr zum Chor- oder Sportverein traut, weil er fürchtet, den Weg zurück nicht mehr zu finden,
dann könnten so genannte Demenzpaten den Mann abholen und wieder zurückbringen – um seine Verbindung zur Welt aufrechtzuerhalten, ihn in sein Umfeld weiterhin einzubinden und ihn nicht in die Isolation zu schicken. Wir brauchen eine Wiederentdeckung der Nachbarschaft und wir werden feststellen, dass es sehr viel bringt, wenn wir uns darauf einlassen, den Familien und Angehörigen ein bisschen von ihrer Last abzunehmen.

Das Thema Demenz löst auch große Ängste aus ...
Reimer Gronemeyer: Ja, deshalb müssen wir  auch mehr darüber reden. Es gibt Menschen die sagen, lieber tot als dement. Das hat damit zu tun, dass die Demenz uns im Kern trifft. Sie wird als beschämend empfunden, weil wir in erster Linie autonom entscheidende Einzelwesen sind. Wenn das beschädigt wird, dann sind wir im Mark getroffen. Deswegen plädiere ich dafür mit dem Gedanken zu spielen, Demenz ist keine Krankheit.

Es sind viele Leute zu Recht tief gekränkt, wenn die eigene Mutter ihren Mann, der längst tot ist, neben sich sieht, sie aber die eigene Tochter nicht mehr erkennt. Das ist ein Phänomen, das kann man nicht aus der Welt schaffen, nicht auflösen, nicht wegerklären und auch nicht heilen. Ich glaube das Schwierigste ist, dass wir uns eingestehen müssen, dass wir nicht auf alles eine Antwort haben. Also müssen wir lernen, damit zu leben, damit umzugehen. In unserer Gesellschaft darf nur das Positive gelten. Die Demenz ist vielleicht der Anfang von einer anderen Betrachtung der Gesellschaft. 

ZUR SACHE - DEMENZ

Bei einer Demenz kommt es zu einem Verlust geistiger Funktionen wie Denken, Erinnern, Orientierung und Verknüpfen von Denkinhalten. Das führt zur Beeinträchtigung von alltäglichen Aktivitäten.

Die häufigste Form der Demenz ist die Alzheimer-Krankheit. In Österreich gibt es etwa 100.000 Menschen, die an Demenz leiden. Im Jahre 2050 werden es um die 230.000 sein. Laut Weltgesundheitsorganisation sollen bis 2050 weltweit 115 Millionen Menschen von Demenz betroffen sein.

Buchtipp: „Das vierte Lebensalter. Demenz ist keine Krankheit.“
Von ­Reimer Gronemeyer. Pattloch-Verlag 2013. Euro 19,99.