Die These vom „Mystiker aus Nazaret“ ist für die Theologin DDr. Monika Renz der „Schlüssel zum Verstehen der ganzen Jesusbotschaft, zur Art, wie Jesus gelebt und geliebt hat“ - und auch Thema beim diesjährigen Herbstsymposion. Das KirchenBlatt hat vorab mit ihr gesprochen.

Simone Rinner

Frau Renz, was ist in Ihren Augen der Mensch?
Renz: Der Mensch ist ein Beziehungswesen. Er verlässt den Mutterleib früher als andere Säugetiere. Es gehört zu seinem Wesen, Angewiesener zu sein. Doch das macht ihn auch verletzlich, erhöht Angstbereitschaft und Prägung, aber auch die Entwicklungschancen. Was dabei herauskommt, ist ein komplexes Wesen, mit hoher Bewusstheit, mit der Fähigkeit zur bewussten Verantwortung und Beziehung, aber auch Fehlbarkeit. Tiere und Pflanzen können ihre Bestimmung nicht gleichermaßen ignorieren und verpassen wie der Mensch. Das hat zu tun mit unserem freien Willen, aber mehr noch damit, dass unser Ich und unsere Wesensmitte nicht dasselbe sind und wir uns oft nicht spüren. Im positiven Fall lässt der Mensch sein Bezogensein weitgehend zu: auf Menschen und auf ein Darüberhinaus. Er antwortet mit Verantwortung. Doch weit häufiger gilt, was Paulus sagte: der Geist ist willig, das Fleisch ist schwach.

In Ihrem Menschenbild spielt die „Prägung“ eine entscheidende Rolle. Können Sie erläutern, worin sie sich zeigt?
Prägung ist ein anderer Begriff für die Schatten des Menschseins. Es gibt stets persönliche nebst kollektiven Schatten. In meinem Buch „Erlösung aus Prägung“ zeige ich auf, dass in unserer Kultur ein bestimmter Bewältigungsmechanismus über unsere Sozialisation längst in Fleisch und Blut übergegangen ist. Ich spreche konkret von einer Angst-, Begehrens- und Machtstruktur. Natürlich gibt es individuelle Ausprägungen, aber den Mechanismus nehmen wir auf wie die Muttermilch.

Wie sieht diese „Prägung“ bei Jesus aus? Was macht ihn zum Mystiker?
Jesus nannte Gott Vater. Er hatte in einem schier überwältigenden Ausmaß eine Beziehung zu diesem Vater: er war von dorther genährt, geführt, eingebunden in ein Wissen über ihn selbst hinaus und entsprechend souverän, aber auch mitleidend und liebend. Er ließ sein Bezogensein so stark zu, dass in seinem Fall ‚Wesensmitte‘ und ‚Ich‘ wirklich identisch sind. Das meint die schwer zu verstehende Rede von Gottes Sohn. Jesus war Sohn Gottes weil Mystiker (der Vater und ich sind eins, Joh 10,30). Die These der biologischen Sohnschaft ist damit nicht widerlegt, wohl aber Geheimnis, ähnlich wie auch Gott selbst. Wir können Gott weder beweisen noch widerlegen. Die These vom „Mystiker aus Nazareth“ ist für mich Schlüssel zum Verstehen der ganzen Jesusbotschaft, zur Art, wie Jesus gelebt und geliebt hat.

Wie wird Jesus heute für uns zum Erlöser?
Auch wir können uns diesem „Vater“ ganz und gar öffnen („Folge mir nach“). Umkehr ist im Griechischen nicht primär moralbehaftet, sondern meint Umwendung, Hineinwendung. Der Vater, aber auch die eigene Wesensmitte, sind durch eine Zuwendung nach innen zu finden. Natürlich vermögen wir nicht dasselbe wie Jesus, aber den Kategorienwechsel (Vertrauen statt Angst, Sein statt Haben, Liebe einschließlich des Risikos unseres Angewiesenseins statt einer dauernden machtorientierten Lebensbewältigung und egozentrierter Absonderung) traut uns Jesus offenbar zu. Diese Öffnung und somit ‚der Vater‘ könnte auch uns nähren und erfüllen. Das Geheimnis von Erlösung verstehe ich am ehesten als Anbahnung: Jesus hat mit seinem Bezogensein auf den Vater und mit seinem außerordentlichen Verhalten für den, der ihm nachfolgt, so etwas wie eine Piste gebahnt im Unwegbaren und Abgründigen menschlicher Prägung. Weil eine Piste da ist, können Menschen ihr einfacher folgen. Das entsprechende griechische Wort „pistis“ heißt „glauben“.

Warum kam der Glaube an Erlösung vielfach abhanden?
Weil Sünde jahrhundertelang moralisch gedeutet wurde und der heutige Mensch sich zu Recht gegen eine Überhöhung des moralischen Aspektes wehrt. Wir sind trotz all unserem Versagen keine Schwerverbrecher. Dem Wortsinn nach ist Sünde aber nichts Moralisches, heißt mittelhochdeutsch ‚Sonderung‘ und meint genau jenen schwer zu durchschauenden Mechanismus, unsere tief in uns sitzende Prägung.


Welche Rolle kommt - im Erlösungsgeschehen - der Kirche zu?
Sie könnte Gemeinschaft der Hoffenden, Glaubenden sein. Sie wäre, wie das ihre Räume örtlich darstellen, Gefäß, in dem das Geheimnis und seine Riten gefeiert, heilige Texte verstehbar und erfahrbar werden. Liturgie heißt „sich erinnern“. Doch woran? Wer hat noch einen persönlichen Zugang zu Jesus und zu jenen konstituierenden Erfahrungen unserer Religion? Wer versteht noch, was er im Glaubensbekenntnis betet? Es fehlt der Zugang, die Sprache. Evangelisierung tut not. Mit dieser Idee realisierten vor Jahren ein Pfarreileiter und ich ein Pfarreiprojekt zu „Erlösung aus Prägung“. Auch andere Seelsorger sind positiv suchend.


Was bedeutet Ihr Ansatz für die Begleitung Heranwachsender?
Menschen verstehen den Ausdruck Fan. Ich persönlich bin ein absoluter Fan von Jesus. Manch einer fragt: warum? Und schon beginnt die Neuentdeckung.


Sie sind auch Leiterin der Psychoonkologie im Kantonsspital St. Gallen. Wie erleben Sterbende Ihre Begleitung?

Ich hoffe raumgebend, respektvoll, mitfühlend. Die meisten sagen kaum etwas. Manchmal gebe ich einen Input, wo andere Begleiter vielleicht schweigen. Manchmal bleibe ich auf der Strecke.


Was sind Ihre persönlichen Wege, ins Verbunden-Sein zu kommen?
Es ist gleichermaßen ein Tun wie ein Lassen. Ich bin herausgefordert, immer wieder meine enge Begrenzung zu überschreiten, zu beten, etwa gegen Angst anzukämpfen. Dann irgendwann wird mir etwas von diesem andern Sein wie geschenkt, und ich bin herausgefordert, anzunehmen. Konkret helfen mir Musik, die Natur, das (stille) Zusammensein mit einem liebgewordenen Menschen und - wenn ich selbst den Zugang zu meinem Verstehensschlüssel und damit zu Jesus zwischendurch finde - so auch er.


Zum Nachlesen
Weitere Informationen zu den im Interview erwähnten Themen finden Sie in ihren Büchern:
Der Mystiker aus Nazaret. Jesus neu begegnen - Jesuanische Spiritualität. Freiburg: Kreuz Verlag, 2013.
Erlösung aus Prägung. Jesu Botschaft und Leben als Überwindung menschlicher Angst-, Begehrens- und Machtstruktur. Paderborn: Junfermann, 2008.

www.monikarenz.ch

Aus dem KirchenBlatt Nr. 35 vom 28. August 2014