Kolumne: Welt der Religionen

Wer beim buddhistischen Kloster am Letzehof spazieren geht und die wunderbare Natur am Stadtschrofen genießt, wird oft durch eine Begegnung mit Nonnen und Mönchen aus Tibet und anderen Ländern der Welt beschenkt. Doch derzeit sind die Frieden Suchenden mit dem strahlenden Lächeln und den langen, dunkelroten Roben ausgeflogen, um mit weiteren Glaubensgeschwistern ihren höchsten Feiertag zu begehen: Das Vesakh-Fest am 21. Mai (Vollmond), wo Buddha Siddhartha Gautamas Geburt, Überwinden der Wiedergeburt und damit sein Eingang in die Ewigkeit (Nirwana) gefeiert werden. Möchte man dieses Fest ins Christentum „übersetzen“, so wäre es Christi Geburt, Auferstehung und Himmelfahrt in einem.

Wichtig ist, dass alle Buddhisten diesen Tag begehen und sich auf die Gemeinsamkeiten der verschiedenen Strömungen (Therawada, Mahayama, Zen u.a.) besinnen. Außerdem werden Zeichen für das Wohlergehen aller Lebewesen gesetzt, wie etwa das Freilassen von Tieren, insbesondere von Vögeln. Denn eine ­zentrale ­Herzensbildung erfolgt auch im Buddhismus über die Einübung der Barmherzigkeit, welche alle Religionen im Innersten verbindet. Im Buddhismus wird sie Karuna (Mitgefühl) genannt und durch Meditation praktiziert. Im Judentum ist sie eine herausragende Eigenschaft Gottes, ein Ausdruck von Treue, obgleich Gott die Fehler der Menschen sieht. Auch der Hinduismus sieht Prasad von Gott kommend, das enge Menschenherz weitend. Die Bahá’í-Religion bestätigt, dass der Mensch an Gottes unerschöpflicher Barmherzigkeit Halt finden kann. Auch im Quran, den Muslime als ­direktes Wort Gottes hochschätzen, sind ar-Rahman (Allerbarmer) und ar-Rahim (Allbarmherziger) die am häufigsten vorkommenden Namen Gottes.

Blicken wir ins Christentum, so finden wir die Barmherzigkeit als misericordia, welche ebenfalls die Fähigkeit des Herzens benennt, das Leid anderer zu spüren. Die Mystikerin und Musikerin Hildegard von Bingen stellt in ihr die Gotteskraft der Barmherzigkeit dar, welche „allen Leidenden die Hand entgegenstrecken und sie aufrichten will“. 
Zu den leiblichen Werken der Barmherzigkeit gehört auch, die Fremden aufzunehmen. Warum feiern wir also das Jahr der Barmherzigkeit, wie Papst ­Franziskus es ausgerufen hat? Sie ist „die wahre Kraft, welche Menschen und Welt retten kann“.

Aglaia Mika, SopranAglaia Mika
Beauftragte der Katholischen Kirche Vorarlberg
für den Interreligiösen Dialog;

Musiktherapeutin, Sängerin, Stimmbildnerin.
 

(aus dem KirchenBlatt Nr. 21 vom 26. Mai 2016)