Wer sich auf ein Filmfestival wie jenes in Locarno einlässt, der weiß, dass Film-Schauen herausfordernd sein kann. Vor allem aber ist es spannend, anregend und berührend. Die beiden Filme, die von der Ökumenischen Jury ausgezeichnet wurden, sind gute Beispiele dafür. Sie sind auch so etwas wie Verkündigung, denn es zeigen sich verblüffende Ähnlichkeiten mit biblischen Figuren und Gleichnisse werden quasi neu erzählt. Die Zuschauenden dürfen sich vorfreuen.

Klaus Feurstein

Als Jesus den Menschen zeigen wollte, was Barmherzigkeit ist, erklärte er dies nicht in abstrakten Gedanken, sondern erzählte eine Gleichnis-Geschichte. Wenn wir heute an Barmherzigkeit denken, haben wir das Bild des barmherzigen Samariters vor Augen und nicht philosophische Umschreibungen. Die bildhafte Verkündigung Jesu und in der Folge auch der Kirche zeigt somit eine große Ähnlichkeit zur Bildsprache des Films. Seit Beginn der Filmgeschichte existiert deshalb auch eine enge Verbindung von Kirche und Kino. War diese über bestimmte Phasen von Skepsis und sogar vom Versuch der Zensur geprägt, so etabliert sich ungefähr seit den 70er Jahren eine konstruktive Zusammenarbeit durch kirchliche Filmzeitschriften, die von vielen Cineasten gelesen werden sowie durch die Präsenz von kirchlichen Jurys auf allen wichtigen Filmfestivals.

Die prämierten Filme
Während die Hauptjury heuer ihre Preise (den Goldenen Leopard und den Regiepreis) an eher experimentelle Filme mit langen statischen Einstellungen vergab, die beim Publikum auf wenig Verständnis stießen, zeichnete die kirchlich-ökumenische Jury zwei Wettbewerbsfilme aus, die auch von den Zuschauern mit frenetischem Applaus bedacht wurden.

Short Term 12
Grace ist eine junge Frau, die in einem Zentrum für schwierige Jugendliche arbeitet. Als Betreuerin ist sie täglich mit tragischen Schicksalen zerbrochener Familien konfrontiert. Seit der Ankunft eines rastlosen Mädchens gerät aber ihre eigene Work-Life-Balance ins Wanken und als sie feststellt, dass sie schwanger ist, muss sie sich ihrer eigenen Vergangenheit stellen und gleichzeitig die Arbeit in der Auffangstation bewältigen.

Barmherzig
Besonders überzeugt hat die Jury, wie der Film das beindruckende Engagement und die tiefe Solidarität zwischen Erziehenden (barmherzigen Samaritern) und Bewohnern zeigt. „In einer tragenden, gegenseitigen Beziehung findet die Hauptfigur Grace die Kraft, ihre Vergangenheit zu bewältigen und eine Zukunft jenseits der Gewalt zu beginnen“, heißt es in der Begründung für die Preisverleihung. Brie Larson gewann für ihre schauspielerische Leistung als Grace auch den Silbernen Leoparden für die beste Hauptdarstellerin.
Tableau noir. Weiters vergab die Jury eine lobende Erwähnung an den Schweizer Dokumentarfilm „Tableau noir“. In der Begründung hieß es: „Yves Yersin legt einen emotionalen Dokumentarfilm über eine Schulschließung in den Schweizer Bergen vor. Er zeigt, wie man Kindern das Vertrauen in das Leben lehren kann – mit sensiblen Bildern und starken Szenen, die Hoffnung und Freude vermitteln.“

Gut behütet
Seit drei Generationen wirkt der Lehrer „Monsieur“ Gilbert Hirschi an einer kleinen Bergschule im Schweizer Jura. In einer einzigen Klasse werden zwölf Kinder zwischen sechs und elf Jahre gemeinsam unterrichtet. Täglich holt er die Kinder persönlich mit dem kleinen Schulbus ab, fährt sie - wie der gute Hirte (mit Filzhut) seine Schäfchen - zur Schule und wieder nach Hause. Und wie ein guter Hirte kümmert er sich liebevoll, einfühlsam, geduldig und mit anschaulichen, lebensnahen Methoden um die Schulkinder.

Schulalltag

2007 begleitete die Kamera des inzwischen 71-jährigen Schweizer Regisseurs Yves Yersin, dessen Film „Die kleinen Fluchten“ (1979) zu den erfolgreichsten Schweizer Filmen aller Zeiten gehört, die Klasse während eines ganzen Schuljahres. Ihm und seiner Crew ist es gelungen, die Dreharbeiten so in den Schulalltag zu integrieren, dass die Kinder die Anwesenheit einer Kamera gar nicht mehr bemerkten. Die Zuseher/innen nehmen unmittelbar teil an deren Freuden und Leiden – besonders die Schließung der Schule am Schluss lässt kein Auge trocken. Und das Bild des Lehrers als guter Hirte wird, wer den Film gesehen hat, nicht so schnell vergessen. 


Filmfestival von Locarno

Das Filmfestival von Locarno findet jedes Jahr im August statt und darf zu den fünf wichtigsten Filmfestivals in Europa gezählt werden.

Seit 1973 verleiht die Ökumenische Jury der Schweiz in Locarno ihren Preis an Filmschaffende, denen es mit künstlerischer Begabung am besten gelingt, die Zuschauerin und den Zuschauer für religiöse, menschliche und soziale Werte zu sensibilisieren. Sie befragt die Visionen der Filmschaffenden nach einem Sinn für Gerechtigkeit, Frieden und Respekt sowie nach spirituellen Dimensionen. Dabei bleibt sie offen für die Leiden und die Abgründe menschlicher Existenz und sucht nach Kinoerfahrungen, die Hoffnung geben. Dieses Jahr hat die Ökumenische Jury zwei Wettbewerbsfilme ausgezeichnet:

Short Term 12. Spiefilm.
Regie: Destin Daniel Cretton. Mit: Brie Larson, John Gallagher Jr., Kaitlyn Dever, Rami Malek, Keith Stanfield u.a. USA 2013.
Tableau noir.
Dokumentarfilm.
Regie: Yves Yersin. Mit: Gilbert Hirschi. Schweiz 2013.