Ein 17-jähriger verzweifelter Jude erschießt in Paris am 7. November 1938 den deutschen Botschaftsangestellten Ernst Eduard vom Rath. Das Signal für den engsten Kreis um Hitler, im ganzen Reich gegen „die Juden“ loszuschlagen. Die Pogromnacht vom 9. auf 10. November war der Auftakt zur Shoah, einer Vernichtungsgeschichte, die im Massenmord in den Gaskammern gipfelte.

Bild rechts: Berthold Kaufmann  hat als 13-jähriger Bub in Graz den Brand der Synagoge erlebt. Sein Vater wurde in das KZ Dachau verschleppt. 1939 gelang es der Familie, nach Zypern zu fliehen. Von dort wurden sie von den Engländern 1941 nach Palästina verbracht. Für die „kreuz-und-quer“-Dokumentation ÜBER.LEBEN macht sich Kaufmann mit seinen Enkelsöhnen und seiner Tochter Ruth, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde Graz, auf Spurensuche. (12. 13. und 14. November ORF 2 und ORF III)

Ernst Gansinger

Der in Paris lebende 17-jährige polnische Jude Herschel Grynszpan bekommt am 3. November einen Brief seiner Eltern, die seit 1927 in Deutschland lebten, aber immer noch polnische Staatsbürger waren. Darin schreiben sie, dass sie nach Polen abgeschoben worden sind. Mit dieser Aktion war Deutschland dem Plan Polens zuvorgekommen, den etwa 17.000 polnischen Juden im Ausland die Rückreise in ihre Heimat drastisch zu erschweren. Gestapo-Chef Reinhard Heydrich ließ die Familien ohne lange Vorbereitung deportieren und im Niemandsland zwischen deutscher und polnischer Grenze aussetzen.
Später wurden viele von ihnen von den Polen in Zbaszyn interniert. Einer von ihnen war der spätere Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki.

Aus „Rache“
Der von der Deportation seiner Eltern informierte Herschel Grynszpan besorgt sich eine Waffe, dringt damit am 7. November 1938 in die deutsche Botschaft in Paris ein und schießt auf Ernst Eduard vom Rath, NSDAP-Mitglied und Legationssekretär. Dieser erliegt am 9. November den schweren Verletzungen. Grynszpan gibt im Verhör „Rache“ für das Leiden und die Demütigung seiner Eltern und seiner jüdischen Landsleute bei deren gewaltsamer Abschiebung an. Grynszpan wird inhaftiert und nach dem Einmarsch der Deutschen in Frankreich 1940 in das KZ Sachsenhausen verbracht, wo sich seine Spur 1942 verliert.

Nächtliche Hetze
Reichspropagandaminister Joseph Goebbels hält am späten Abend des 9. November vor SA-Führern eine Hetzrede, in der er von der „Jüdischen Weltverschwörung“ spricht und „die Juden“ für den Tod vom Raths verantwortlich macht. Er lobt die angeblich „spontanen“ judenfeindlichen Aktionen im ganzen Reich, bei denen
bereits die ersten Synagogen in Brand gesetzt und Geschäfte geplündert worden waren.
Goebbels macht deutlich, dass die Partei nicht als Organisator antijüdischer Aktionen in Erscheinung treten will, aber diese dort, wo sie entstehen, auch nicht behindern wird. Die anwesenden Gauleiter und SA-Führer verstehen dies als indirekte, aber unmissverständliche Aufforderung zum Handeln gegen jüdische Häuser, Läden und Synagogen. Daraufhin setzen sich Mitglieder der SA in Marsch, die Leitung der Zerstörungen obliegt den örtlichen Propagandaämtern der NSDAP.

„Ordnungs“-Kräfte
Hitler persönlich weist den Chef der Sicherheitspolizei, Reinhard Heydrich, knapp vor Mitternacht an, der Sicherheitsdienst soll sich heraushalten, die Staatspolizei soll aber für den „Schutz“ des jüdischen Eigentums vor Plünderern sorgen. Das sollte schließlich für spätere „Arisierungen“ erhalten bleiben. Diesen Befehl sendet Heydrich als Blitzfernschreiben gegen 1:20 Uhr an alle Staatspolizei-Leitstellen im Reich. In einer wahrscheinlich von Hitler befohlenen Ergänzung heißt es darin: „Sobald der Ablauf der Ereignisse dieser Nacht die Verwendung der eingesetzten Beamten hierfür zulässt, sind in allen Bezirken so viele Juden – insbesondere wohlhabende – festzunehmen, als in den vorhandenen Hafträumen untergebracht werden können.“

„Eigendynamik“
In Österreich setzten die Pogrome in Wien, Klagenfurt, Linz, Graz, Salzburg, Innsbruck und mehreren niederösterreichischen Städten erst im Laufe des 10. November ein, dauern an manchen Orten dafür aber mehrere Tage und sind in ihrer Zerstörungswut besonders heftig. Die über den Rundfunk mehrfach verbreitete Aufforderung, „von weiteren Demonstrationen und Vergeltungsaktionen sofort abzusehen“, zeigte wenig Wirkung. Die Gewalt gegen Juden dürfte eine „Eigendynamik“ bekommen haben. Vielleicht auch ein Hinweis für die Nazibonzen, wie weit man bei der Judenverfolgung gehen kann.

Bilanz
Reinhard Heydrich schreibt am 11. November 1938 an Hermann Göring, dass in diesen Tagen insgesamt 191 Synagogen niedergebrannt und zusätzlich 76 vollständig verwüstet wurden. Avraham Barkai wies 1988 darauf hin, dass Historiker diese Zahl weithin unkritisch übernommen haben, es in Wahrheit aber fast alle Synagogen im gesamtdeutschen Reich getroffen habe. Heute geht man von einer Gesamtzahl von 1574 vollständig zerstörten Synagogen und Betstuben aus, allein in Wien waren es 42. Rund 7500 jüdische Geschäfte wurden geplündert, zertrümmert oder angezündet. Tausende jüdische Familien, deren Wohnungen nicht schon vorher „arisiert“ worden waren, verloren ihr Heim.

Beginn des Mordens
Ein interner Bericht der NSDAP dokumentiert für den 9. und 10. November mindestens 91 Morde. Tatsächlich liegt die Zahl der Todesopfer weit höher und wird heute zwischen 400 und 1500 Tote geschätzt; darin ist auch eine beträchtliche Zahl von Selbstmorden im Zusammenhang mit dem Pogrom enthalten. In Österreich verlieren zumindest 27 jüdische Menschen ihr Leben, darunter auch Richard Berger, Vorstand der Kultusgemeinde von Innsbruck, der aus seiner Wohnung geschleppt und am Innufer brutal mit Steinen erschlagen wird.

Noch mehr Menschenleben aber kostet die angeordnete Verhaftungswelle. Über 30.000 jüdische Männer werden um den 10. November festgenommen. Zwei Drittel – von den verhafteten 6700 Österreichern rund 4000 – werden von der Gestapo und der SS in die Konzentrationslager Buchenwald, Dachau und Sachsenhausen verschleppt. Mehrere hundert Deportierte sterben in den ersten Monaten der Lagerhaft. Laut Bericht eines jüdischen Berliners lassen die Wachmannschaften beim „Hofappell“ (nächtelanges Strammstehen in der Kälte) keinerlei Zweifel, dass man Todesfälle ohne weiteres in Kauf nimmt: „Ihr seid nicht in einem Sanatorium, sondern in einem Krematorium ... Die SS hat das Recht, auf Euch zu schießen, wann sie will.“ Und sie tut es auch. Dennoch kommen die meisten Inhaftierten noch einmal frei, nachdem sie sich zur „Auswanderung“ und zur „Abgabe“ ihres Vermögens bereit erklären.

Das Reichsjustizministerium weist die Staatsanwälte an, „keine Ermittlungen in Sachen Judenaktion vorzunehmen“. Damit ist die Justiz außer Kraft gesetzt; den Betroffenen ist jeder Rechtsweg versperrt.    

 

Und die Meinen haben es getan

Es war 1988, 50 Jahre nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich. Die Katholischen Publizisten hatten zum Gespräch mit Zeitzeugen geladen. Prälat Johannes Österreicher, vor den Nazis geflohener Priester und Jude, später Wegbereiter der völlig neuen Aussagen des Konzils über das Verhältnis von Kirche und Judentum, der Journalist Otto Schulmeister und Rudolf Kirchschläger saßen am Tisch. Der Altbundespräsident, dem kurz nach dem Einmarsch die Studienerlaubnis entzogen worden war, weil er nicht der NSDAP beitreten wollte, erinnerte sich mit Schmerz an den Heldenplatz, aber mit tiefer Scham an die Ereignisse des 10. Novembers. Das Wüten der SA-Horden gegen die wehrlosen Juden war schlimm genug, meinte Kirchschläger. Zutiefst erschüttert und beschämt aber habe ihn, wie „gute Nachbarn“ und Leute, die neben ihm in der Kirchenbank saßen, auf die Straße stürmten, um jüdische Geschäfte auszuplündern.
War es nur die Gier oder war es auch ein unter kirchlicher Beteiligung gewachsener und von ihr gerechtfertigter Antisemitismus? Das Gedenken an die Reichspogromnacht, die wie das Wetterleuchten einer unvorstellbaren Vernichtungsorgie, der Shoah, warnend aufblitzte, schließt immer auch diese Frage mit ein.

Der für seine tiefen spirituellen Texte bekannte ehemalige Bischof von Aachen, Klaus Hämmerle, schrieb dazu vor 25 Jahren dieses Gebet:  

Man hat meinem Gott das Haus angezündet
– und die Meinen haben es getan.
Man hat es denen weggenommen, die mir den Namen meines Gottes schenkten
– und die Meinen haben es getan.
Man hat ihnen ihr eigenes Haus weggenommen
– und die Meinen haben es getan.
Man hat ihnen ihr Hab und Gut, ihre Ehre, ihren Namen weggenommen
– und die Meinen haben es getan.
Man hat ihnen das Leben weggenommen
– und die Meinen haben es getan.
Die den Namen desselben Gottes anrufen, haben dazu geschwiegen
– ja, die Meinen haben es getan.

Man sagt: Vergessen wir’s und Schluss damit.
Das Vergessene kommt unversehens zurück.
Wie soll Schluss sein mit dem,  was man vergisst?
Soll ich sagen: Die Meinen waren es, nicht ich?
– Nein, die Meinen haben es getan.
Was soll ich sagen?
Gott sei mir gnädig!
Was soll ich sagen?
Bewahre in mir Deinen Namen,
bewahre in mir ihren Namen
bewahre in mir ihr Gedenken,
bewahre in mir meine Scham.
Gott sei mir gnädig.

(aus KirchenBlatt Nr. 45 vom 7. November 2013)