Regierungen zerbröckeln, die Zahl der Arbeitslosen erreicht neue Rekordwerte, die Wirtschaftsdaten gehen in den Keller: Europa steckt mitten in einer neuen Krise. Viele sagen, die „alten Rezepte“ verschärfen die Lage weiter und fordern in einem Brief an die Regierungs- spitze einen Kurswechsel. Zu ihnen gehört auch der Wirtschaftsforscher Stephan Schulmeister.

Hans Baumgartner

Griechenland sei ein Fass ohne Boden, heißt es immer wieder. Doch von den über 207 Milliarden an EU-Rettungsgeldern sind 77 Prozent in den Finanzsektor geflossen, auch um europäische Banken zu schonen, während der Bevölkerung ein immer schärferer Sparkurs zu schaffen macht. Allein in Athen verteilen die orthodoxen Kirchengemeinden täglich 10.000 Essensportionen. Die Schlangen vor Ausgabestellen für Medikamente werden immer länger, viele Pensionist/innen warten hier ebenso wie Frauen mit Kindern. In den Kliniken werden immer öfter Schwangere vor der Geburt abgewiesen, weil sie keine Krankenversicherung und kein „Bares“ haben. Die Zahl der Arbeitslosen ist seit Ausbruch der Krise auf 27 Prozent gestiegen, fast zwei Drittel der jungen Leute haben keinen Job.

Krise vor uns
Auch in Portugal, Spanien, Italien oder Frankreich kommen die Regierungen immer mehr unter Druck. „Wenn die EU mit ihren bisherigen Rezepten weitermacht, dann haben wir die große Krise nicht hinter uns, sondern vor uns“, ist der Wirtschaftsforscher Stephan Schulmeister überzeugt. Deshalb appellierte er vor kurzem gemeinsam mit zahlreichen Vertreter/innen aus den Bereichen der Ökonomie, Gewerkschaft, Politik und der Zivilgesellschaft (u. a. Kath. Arbeitnehmer/innen) an Kanzler, Vizekanzler und Finanzministerin: Europa braucht einen Kurswechsel in seiner Wirtschaftspolitik.
 
So nicht
Konkret fordert die Allianz die österreichische Regierung auf, der geplanten „Vertiefung“ der Wirtschafts- und Währungsunion so nicht zuzustimmen. „Es geht dabei um die Durchsetzung eines neoliberalen Wirtschaftskurses“, der für Schulmeister im klaren Gegensatz zur christlichen Soziallehre und zu der in Europa viele Jahrzehnte erfolgreich praktizierten sozialen Marktwirtschaft steht. „In einer ersten Etappe wurde auf die von den neoliberalen Finanzmärkten mitverursachten Schuldenkrise mit rigiden Sparkursen geantwortet. Damit wurde“, so Schulmeister, „die von den Neoliberalen stets gepredigte Schwächung des Sozialstaates vorangetrieben. Die damit ausgelöste gleichzeitige Schwächung der Wirtschaft – Verlust der Kaufkraft und Rückgang der Investitionen –, führt dazu, dass man nun die zweite Etappe am neoliberalen Sanierungspfad in Angriff nimmt“, sagt Schulmeister. Er meint damit den von der EU-Kommission vorbereiteten Pakt für „Abstimmung (Konvergenz) und Wettbewerbsfähigkeit“.

Spirale nach unten
„Letztlich geht es bei dieser zweiten Welle darum, Löhne, Lohnnebenkosten, Arbeitsschutzregelungen oder Sozialleistungen abzusenken, um damit wettbewerbsfähiger zu sein. Dafür“, so Schulmeister, „sollen u. a. die Branchenkollektivverträge fallen und die Löhne etc. betrieblich ausgehandelt werden. In einer Zeit, wo viele Arbeitslose auf einen Job warten, wäre das geradezu eine Einladung, eine Lohn- und Sozialspirale nach unten zu öffnen“, sagt Schulmeister. „Die Folgen wären, gerade für ohnedies schon angeschlagene Volkswirtschaften, verheerend; der Nutzen hingegen äußerst fragwürdig“, meint der Wifo-Experte für internationalen Wettbewerb. Es käme durch sinkende Kaufkraft zu einem weiteren Einbruch der Konjunktur, zu einem Anwachsen der Armut, zu einem Ausfall von Steuer- und Sozialeinnahmen mit weiteren Sparmaßnahmen. Die Wettbewerbsvorteile für Europa wären allerdings nur sehr gering, weil ein Großteil des europäischen Warenaustausches innerhalb der EU stattfindet. „Das würde nur zu einem höchst negativen Lohn- und Sozial-
wettbewerb zwischen den EU-Ländern führen, der die Wirtschaft in Europa insgesamt schwächt“, fürchtet Schulmeister. Was die Wettbewerbsfähigkeit zwischen ehemaligen Hartwährungsländern (z. B. Deutschland, Österreich) mit traditionell zurückhaltender Lohnpolitik und ehemaligen „Weichwährungsländern“ angeht, sieht Schulmeister einen gewissen Korrekturbedarf. „Aber das ist etwas anderes, als Kollektivverträge mit Löhnen, die zum Leben reichen, oder Arbeitnehmerrechte leichtfertig über Bord zu werfen – so, wie das jetzt im Raum steht. Es wurde beim letzten Gipfel im Juni nur deshalb nicht weiterverfolgt, weil Merkel vor den Herbst-Wahlen keine kritische EU-Front haben will.“

Radikale Wende
Schulmeister fordert nicht weniger als einen radikalen Schnitt in der Wirtschaftspolitik. Bisher habe die Politik viele Milliarden für Banken- und Konjunkturpakete ausgegeben und dabei nur die Symptome der Krise bekämpft, nicht jedoch die Ursachen. Im Gegenteil, „die neoliberalen Finanz-Alchemisten haben weiterhin mit ihren Spekulationen auf Staatspleiten, Wechselkurse oder Rohstoffe blendend verdient und die Realwirtschaft beschädigt.“ Die Politik lasse sich noch immer zum Handlanger jener Finanzakteure machen, die für die Krise verantwortlich sind, kritisiert Schulmeister.

 „Wenn wir schauen, wann die Wirtschaft gut gelaufen ist, dann sind das immer Phasen, wo das Gewinnstreben – und das ist nun einmal  der Motor des Kapitalismus – sich nur in der Realwirtschaft entfalten konnte und es nicht möglich war, durch das Hin- und Herschieben von Geld mehr Geld zu machen.“ Wenn man sich die wirtschaftlichen ,Spielregeln‘ der 50er und 60er Jahre anschaue oder die des heutigen China, „dann sieht man, dass durch die Stabilisierung der Wechselkurse und der Zinssätze zwei für die Unternehmen ganz wichtige Preise nicht vom freien Markt gebildet wurden, sondern von der Politik gesteuert wurden. Damit schuf man einerseits für Unternehmen den Anreiz, real zu investieren und damit Arbeitsplätze zu schaffen; andererseits entzog man den Finanzmärkten wesentliche Möglichkeiten zu spekulieren; man konnte das Geld nur vermehren, indem man es in die reale Wirtschaft investierte.“

Austrocknen
Der Blick zurück zeige aber auch, so Schulmeister, dass mit dem Aufkommen des neoliberalen Finanzkapitalismus ab den 70er Jahren die ökonomischen und sozialen Probleme immer größer geworden sind – sinkende Realeinkommen, steigende Unsicherheit auf den Arbeitsmärkten, Rückbau des Sozialstaates, wachsende Kluft zwischen Reichen und Normalbürgern. „Deshalb brauchen wir wieder eine realkapitalistische Spielanordnung, wo das Geld in die konkrete Wirtschaft fließt und das Aktionsfeld der Finanz-Alchemisten ausgetrocknet wird.“ Diese Änderungen herbeizuführen, so Schulmeister, erfordere keine Milliarden-Rettungsschirme, sondern Politiker, die – so wie einst Präsident Roosevelt während der Weltwirtschaftskrise – bereit sind, neu zu denken und die Fehler zu korrigieren. Konkret fordert Schulmeister u. a. die Gründung eines europäischen Währungsfonds, der bisher verhindert wurde, aus Angst, man müsste für schwächere Länder mitzahlen. „Das müssen wir jetzt auch.“ Aber durch einen gemeinsamen Währungsfonds wäre es praktisch unmöglich, gegen einzelne Länder zu spekulieren – ein wesentlicher Auslöser für die Eurokrise und ihre fatalen Folgen. „Die Zinsen für Staatsschulden und damit die Finanzierungskosten für das Gemeinwesen gehören dem Spiel privater Finanzjongleure entzogen“, fordert Schulmeister. Ähnliches müsste für die weltweiten Wechselkurse gelten. Da würden per Computer stündlich Milliarden hin- und hergeschoben und damit ein Klima der Instabilität erzeugt. Dass man diesen Spekulationen weitgehend einen Riegel vorschieben kann, habe die Schweiz vor einem Jahr vorgemacht.

New Deal
Der Wechsel der „Spielregeln“ würde zumindest mittelfristig zu einer Sanierung der Wirtschaft und der Staatshaushalte führen, ist Schulmeister überzeugt. „Kurzfristig aber bräuchte es wegen der enormen wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen (Arbeitslosigkeit etc.) einer Anschubfinanzierung, um damit ohnedies dringend notwendige Investitionen im Umwelt- und Energieeffizienzbereich, im Bildungssystem, der Kinderbetreuung oder Pflege zu tätigen.“ Ähnlich wie F. D. Roosevelt für seinen erfolgreichen „New Deal“ in den 30er Jahren würde auch Schulmeister sich das Geld dafür bei den Bessergestellten holen. „Weniger aus sozialen, sondern aus wirtschaftlichen Gründen: Wenn man bei den Reichen durch eine sehr moderate Vermögenssteuer von 0,5 Prozent etwas abschöpft, dann schlägt sich das nicht wirklich auf deren Konsum und damit direkt auf die Wirtschaft nieder –  so wie das bei Kürzungen von Löhnen oder Sozialleistungen der Fall wäre. Und außerdem ist es auch für Wohlhabende interessant, in einem krisenfesten Umfeld zu leben.“ Auch die Einführung einer Finanztransaktionssteuer wäre eine kurzfristig notwendige Zwischenlösung, „bis sich das wilde Spekulieren durch neue Spielregeln ohnedies aufhört.“