„Auch unsere Zeit ist Gottes Zeit. Es sollte uns eine heilige Unruhe erfassen, wie wir als Einzelne und als Kirche der Verantwortung in unserer Zeit gerecht werden können“, meinte die Wiener Sozialethikerin Ingeborg Gabriel bei der Ökumenischen Sommerakademie im Stift Kremsmünster. Sie trat dafür ein, das Sozialwort der Kirchen Österreichs auf die neuen Herausforderungen hin fortzuschreiben.

Bild rechts: Univ-Prof. Dr. Ingeborg Gabriel lehrt Christliche Gesellschaftslehre und Sozialethik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien.

Interview: Matthäus Fellinger

Seit knapp zehn Jahren ist das Sozialwort der Kirchen Österreichs auf der Welt. Haben Sie den Eindruck, dass damit etwas bewegt wurde?
Ingeborg Gabriel: Ob ein Wort, egal ob eine Predigt oder eben ein Sozialwort, im Herzen bewegt und im Kopf etwas in Gang setzt, lässt sich schwer sagen. Ich glaube, dass einiges passiert ist, was sonst nicht geschehen wäre. Für die Kirchen gilt, dass damit eine wirklich intensive Zusammenarbeit angestoßen wurde. Es wurde Vertrauen geschaffen, das ohne diesen Prozess nicht gegeben wäre.

Sie plädieren jetzt für eine „Fortschreibung“ des Sozialwortes. Glauben Sie, dass heute in der Gesellschaft eine Neugier dafür da ist, was die Kirchen zu den gesellschaftlichen Problemen sagen?
Gabriel: Ob Neugier das genau trifft, weiß ich nicht, aber Neugier wird auch stimuliert, wenn man neue und notwendige Sachen sagt. Wenn sich die Kirchen zu den wirklich wichtigen Themen, die in der Luft liegen – zu Wirtschaftskrise, Finanzkrise, auch zu Fragen der Demokratie und Ökologie –, fundiert und glaubwürdig zu Wort melden, werden sie auch gehört werden.

Da ist ein spürbares Vakuum in der Gesellschaft da, in das hineinzusprechen von den Kirchen erwartet wird. Es geht um die Frage: Können wir unsere Welt überhaupt noch positiv sehen angesichts der vielen Entwicklungen, die heute in die falsche Richtung laufen. Ich glaube, dass in der gegenwärtigen Zeit schon das Gefühl da ist, dass wir irgendwie auf einer Kippe sind – und dass, wer immer etwas dazu zu sagen hat, das auch zu Gehör bringen muss, damit man aus diesen Sackgassen wieder herauskommt.

Eines der gesellschaftlichen brisanten Themen ist das Thema der Zuwanderung (Migration). Wie beurteilen Sie die politische Diskussion darüber?
Gabriel: In einer globalisierten Welt finden Migrationen statt, ob wir wollen oder nicht. Wir können nicht so tun, als könnten wir in eine homogene Gesellschaft wie in den Sechzigerjahren zurück. Wir müssen diesen Wandel konstruktiv gestalten. Das ist gegenwärtig nicht der Fall. Ich plädiere für eine Blickumkehr: Könnten wir nicht sagen, dass die Menschen, die zu uns kommen, ein Potential mitbringen, auf dem wir – gemeinsam mit ihnen – auf- und weiterbauen. Und dann wird es auch gewisse Grenzen geben müssen. Ich bin nicht gegen jedwede Zugangsbestimmungen. Aber ich muss sehen, dass ein gesellschaftlicher Wandel  gegeben ist, der in jedem Fall stattfindet. Wenn ich diesen Wandel konstruktiv gestalte, kann das für alle Seiten ein Vorteil sein. Wenn ich dann Grenzen einziehe, ist das etwas anderes, als wenn ich nur behördliche Abwehr-Schikanen aufbaue, die im Endeffekt zu nichts führen.

Was ist das Besondere, das die Kirchen einbringen können?
Gabriel: Die große Stärke der Kirchen ist: Sie haben eine umfassende Lebensdeutung. Wir wissen, woher der Mensch kommt, wohin er geht, was seine Bestimmung ist, wozu er also auf der Welt ist. Das ist eine unerhörte Stärke. Ich glaube, dass sich unsere Gesellschaft heute sehr in methodischen und funktionalen Prozessen erschöpft, weil man eigentlich nicht mehr um die grundlegenden menschlichen Ziele weiß. Da können die Kirchen etwas einbringen. Es muss nicht jeder gleich den ganzen christlichen Glauben teilen, aber wesentliche Elemente dieses Wissens um den Menschen können wir teilen. Deshalb sollen wir uns auch um ethische Allianzen bemühen. Kirchen haben hier eine wichtige Kristallisations- und Deutungsfunktion.

Das Sozialwort vor zehn Jahren war ein österreichisches nationales Wort, das im Ausland viel Beachtung fand. Müsste eine Fortschreibung nicht auf europäischer oder überhaupt internationaler Ebene geschehen?
Gabriel: Natürlich hielte ich es für sehr sinnvoll, wenn auf europäischer Ebene solche Prozesse stattfinden würden. Es gäbe ja die Organisationen der Kirchen, die das Potential dazu hätten. Die meisten Probleme sind ja europäisch, wenn nicht weltweit.

Viele Themen, wie die Frage der Migration und Integration, betreffen nicht nur die christlichen Kirchen, sondern die Religionen insgesamt. Hielten Sie ein gemeinsames Sozialwort der Religionen für sinnvoll und möglich?
Gabriel: Ich glaube, das ist im Augenblick nicht das, was ansteht. Wohl aber halte ich es für sinnvoll, sich zu fragen, was Religion für Integration bedeutet. Da passiert in Österreich auch viel. Aber das könnte man vor allem mit der muslimischen Gemeinschaft aber noch weiter vertiefen. Ich kenne da sehr positive Beispiele, die mir zeigen: Wenn man gerade jungen Menschen die Möglichkeit gibt, über gewisse Dinge zu reflektieren und sich darüber klar zu werden, kann das recht fruchtbar sein. 

Die Ökumenische Sommerakademie hat die Frage gestellt „Wer ist unser Nächster?“. Hat unsere Gesellschaft ein tragfähiges Empfinden für den Nächsten?
Gabriel: Die meisten Menschen haben Empathie für den Anderen, für Mitmenschen. Egoisten hat es immer gegeben. Für bedenklich halte ich, wenn der Egoismus heute ideologisch legitimiert wird, im Sinn von sozialdarwinistischen und evolutionistischen Theorien.
Da sage ich: Na bitte, Egoismus ist wunderbar. Ich folge meinem eigenen Nutzen und trage damit zur Evolution bei. Das ist zwar Unsinn, entlastet aber davon, moralisch zu handeln, und legitimiert den Egoismus. Solche pseudowissenschaftlichen Theorien  sind weit verbreitet. Man sehe sich nur die Universum-Sendungen oder viele Wissenschafts- journale an. Sie tun, als ob die Evolution die neue Offenbarung wäre. Es ist dann normal geworden, dass Menschen nur ihre eigenen Interessen verfolgen, und es wird dann notwendig, sich zu legitimieren, wenn man sich für andere einsetzt. Das führt zu einer Erosion der Solidarität. Das halte ich für gefährlich, weil  es moralische Potentiale aushöhlt.

STENOGRAMM

„Wer ist mein  Nächster?“ fragte die Ökumenische Sommerakademie vergangene Woche in Kremsmünster. Dazu Zitate von Vortragenden:

„Wer wirklich seine Interessen und Bedürfnisse im Blick hat, der sieht, dass er seine Mitmenschen und funktionierende soziale Beziehungen bitter nötig hat.“
Michael Pauen, Professor für Philosophie, Berlin

„Das Eingehen auf die Schwächsten ist etwas, was einer aufgeklärten modernen Gesellschaft zutiefst guttut. Wenn die moderne Gesellschaft keine Kirchen hätte, bräuchte sie solche dringend.“
Heinrich Bedford-Strohm, Bischof der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche in Bayern

„Es braucht Erfahrungsfelder von Solidarität im überschaubaren Bereich. Was dort nicht gelebt wird, kann sich nicht nach außen verwirklichen.“
Ansgar Kreutzer, Professor für Fundamentaltheologie in Linz

ZUR SACHE

Sozialwort wird fortgeschrieben

„Die christlichen Kirchen Österreichs bieten sich erneut als Orte an, in denen die Fragen über die Zukunftsentscheidungen Europas diskutiert werden können.“ Das betonte der evangelische Bischof Michael Bünker bei der Ökumenischen Sommerakademie im Stift Kremsmünster. Als Vorsitzender des Ökumenischen Rates der christlichen Kirchen kündigte er einen einjährigen Diskussionsprozess über das Sozialwort der Kirche ab November 2013 an. Das Sozialwort ist am 1. Adventsonntag 2003, also vor zehn Jahren, erschienen. 
Der neue Metropolit der griechisch-orthodoxen Kirche, Arsenios Kardamakis, hielt einen eindringlichen Appell gegen ein Aufsplittern Europas:  „Niemand kann die überheblichen und gefährlichen Behauptungen begründen, dass manche Völker und manche Menschen besser seien als andere.“

Enkelgerecht. Der Innsbrucker Bischof Manfred Scheuer forderte, die Gesellschaft „enkelgerecht“ zu gestalten. „Europas Staaten sind dabei, eine ganze Generation zu verlieren“, warnte er. Das gesellschaftliche Leben sei heute von einer großen Unübersichtlichkeit gekennzeichnet. Das führe dazu, dass sich die Verantwortlichkeiten, besonders in der Finanzwelt, zunehmend verflüchtigen. „Wir tun uns schwer zu realisieren, dass der Mensch im Mittelpunkt der Wirtschaft zu stehen hat.“ 

Bischof Michael Bünker
ist Vorsitzender des Ökumenischen Rates

(aus KirchenBlatt Nr. 29 vom 18. Juli 2013)