Rund 100.000 Frauen, Männer und Kinder waren vergangene Woche zu Gast in Stuttgart, beim evangelischen Kirchentag. Unter ihnen auch die Vorarlbergerin Karin Schindler-Bitschnau. Von ihr stammen die folgenden "Impulse von den Evangelischen".

Karin Schindler-Bitschnau

Neben großen Sportereignissen und der Frankfurter Buchmesse ist es das größte gesellschaftliche Ereignis in Deutschland: der evangelische Kirchentag, der jedes zweite Jahr in einer anderen deutschen Großstadt stattfindet, alternierend mit dem Katholikentag die Jahre dazwischen. Für den 35. Kirchentag unter der Losung aus dem Buch der Psalmen vom 3. bis 7. Juni, war Stuttgart im Nachbar-Ländle die gastgebende Stadt, die die 100.000 Besucher wohlorganisiert aufnahm.

Als eine dieser vielen sammelte ich viele Gedanken, Eindrücke und Erfahrungen, von denen mir einige für uns Gläubige in den Pfarren, Seelsorgeräumen und Pfarrverbänden - und vielmehr als Christen und Christinnen wichtig erscheinen:

1. „Die Situation einen Millimeter zum Besseren wenden“ angesichts der Krisen in manchen Weltregionen, die für ihn selbst manchmal unverständlich sind, ist die Zuversicht des bundesdeutschen Außenministers Frank-Walter Steinmeier. Diese nimmt der reformierte Christ aus dem Glauben, auch wenn er „die Bibel nicht unterm Arm trägt“ und auf jede Situation eine biblische Weisung parat hat. Der Glaube als zentraler Punkt der Zuversicht angesichts der verzweifelten globalen Gemengelage (Umwelt, Verschuldung, Flucht, Korruption, ungerechte Handelspolitik, sexuelle Diskriminierung und Ausbeutung, religiöse Radikalisierung, Arbeitslosigkeit usw.) hat Bedeutung auch für Nicht-Kirchgänger. Der Kirchentag war eine Plattform für die drängendsten gesellschaftspolitischen Probleme - so offen, kritisch und mittendrin kann Kirche sein.

2. „Facebook ist nützlich wie eine Waschmaschine“, antwortete Angela Merkel auf die Frage eines Elfjährigen, was die Kanzlerin über Facebook denke. 9000 Zuhörerinnen und Zuhörer mussten lachen bei diesem Vergleich, bringt die Kanzlerin den Umgang mit der Digitalisierung des alltäglichen Lebens auf den Punkt: Im digitalen Raum gelten dieselben Werte der Gerechtigkeit, Freiheit und Würde des einzelnen wie im analogen Leben. Shitstorms sind da wie dort beleidigend. Daten können ebenso missbräuchlich verwendet wie für medizinische Zwecke gespendet werden. Neue Medien können der Ort des sozialen Engagements sein, erklärte Joanna Breidenbach, Mitbegründerin von betterplace.org, der größten deutschen Spendenplattform. In der Frage „Was ist ein gutes und gelingendes Leben im Netz?“ liegt ein weites Diskussionsfeld zwischen den Generationen.

3. „Der Freizügigkeit des Marktes steht die Fragmentierung des eigenen Lebens entgegen.“ So analysiert der katholische Moraltheologe Dietmar Mieth die Lebenswirklichkeit von vielen Menschen in der „Rushhour des Lebens“, in der Berufstätigkeit, Partnerschaft und Familie unterschiedliche Anforderungen stellen, die diametral entgegengesetzt sein können. Auf die vielfältigen Lebensformen, die mit oftmaligen Berufs- und Partnerwechseln einhergeht, blickte die Kirche auf dem Kirchentag ohne moralischen Zeigefinger - auch katholischerseits.

4. Mystische Traditionen als wichtiger Ort des interreligiösen Dialogs: „Lā ilāha illā ʾllāh“ lautete der Liedtitel bei einer islamisch-christlichen Bibelarbeit von Hülya Kandemir. Oft als Kampfruf verstanden, konnte Hülya Kandemir diesen ersten Teil des muslimischen Glaubensbekenntnisses als Formulierung des gemeinsamen Glaubens von Christen und Muslimen machen. Sie sang als Muslima selbst in einem kirchlichen Jugendchor mit und verbindet in ihrem Lied islamisch-mystische Traditionen mit den eingängigen Melodien des neuen geistlichen Lieds. Und alle sangen mit!

Die evangelische Kirche präsentierte sich auf dem Kirchentag demokratisch, bibelorientiert, ökologisch, sozial engagiert, gendersensibel, kreativ, kontrovers, international und hoch politisch. Die Nähe zur Politik, ein verklärter Blick auf Luther, die Nicht-Thematisierung des Umgangs mit dem eigenen Wirtschaftsgebaren und ein naives aktionistisches Weltverbesserungsgehabe können kritisiert werden. Nichtsdestotrotz ist in vielen der kirchlichen und gesellschaftspolitischen Zukunftsfragen die ökumenische Zusammenarbeit eine Selbstverständlichkeit und der Weg, um gemeinsam klüger und mit Gottes Hilfe weiser zu werden.

www.kirchentag.de

Der Artikel erscheint im KirchenBlatt Nr. 24 vom 11. Juni 2015.