Die vielen Flüchtlinge, die in den vergangenen Tagen durch Österreich gereist sind, dominieren Gesellschaft, Medien und Politik. Zu Recht. Gleichzeitig gibt es am Rand Europas weiterhin unvorstellbare Armut.

Dietmar Steinmair


In Chisinau, der Hauptstadt der Republik Moldau, forderten am Sonntag und zu Wochenbeginn zehntausende Menschen vorgezogene Parlamentswahlen und den Rücktritt von Präsident Nicolae Timofti. Das Land ist seit vielen Jahren in einer tiefen Krise und - ähnlich wie die Ukraine - in ein proeuropäisches und ein prorussisches Lager gespalten.

Die Probleme wachsen

Vor gut einem Jahr berichtete Bettina Schörgenhofer aus Muntlix im KirchenBlatt von ihrer Arbeit in der Republik Moldau. Zusammen mit Michael Zikeli leitet sie die Concordia Sozialprojekte, die seit 2004 in dem kleinen Land zwischen Rumänien und der Ukraine tätig sind.
Vor Kurzem waren sie zu Besuch im Ländle. Das Grundproblem habe sich nicht geändert, so die beiden. Weil die meisten jungen Erwachsenen zum Arbeiten ins Ausland gehen, werden die Steuereinnahmen des Landes immer geringer. Ende September drohe die Staatspleite, so Zikeli. Der Internationale Währungsfond dreht den Geldhahn zu, weil Land und Wirtschaft zu instabil sind. Manöver russischer Truppen im abtrünnigen Transnistrien - eine Drohgebärde des Kreml - verschärfen zudem die geopolitische Lage.

Überlebenskampf

„Der Staat droht zu implodieren - die Armut explodiert bereits und die Verzweiflung wächst“, sagt Zikeli. Viele Menschen stünden ununterbrochen vor existenziellen Fragen: Entweder Brennholz oder Essen oder Kleidung. Nur eines davon geht sich aus. Die Anfragen an Concordia steigen. 2014 wurden 6.592 Menschen in Suppenküchen, Sozialzentren oder mobil betreut.

Eine von ihnen ist Frau Valentina (im Bild rechts), die auf ihre fünf Enkelkinder im Alter von fast 2 bis 14 Jahren schaut. Die Frau hat mit ihren 57 Jahren noch keine staatliche Pension, bekommt unregelmäßig rund 30 Euro Sozialhilfe und versucht über Gelegenheitsarbeiten etwas dazuzuverdienen. Das Geld reicht aber nicht zum Überleben. „Sie wachte nachts auf und konnte nicht mehr schlafen, weil sie nicht wusste, was sie den Kindern zum Frühstück geben sollte“, beschreibt Schörgenhofer den ständigen Überlebenskampf. „Unsere Arbeit bei und mit ihr besteht darin, zuerst die Grundbedürfnisse sicherzustellen, mit Lebensmittelpaketen, Kleidung und Schuhen für die Kinder, Holz zum Kochen. Dann haben wir sie motiviert, den Hof aufzuräumen, den Garten vorzubereiten, damit etwas angepflanzt werden kann, um wieder Vertrauen zu fassen in ihre eigenen Kräfte. Damit sie sich selbst versorgen kann, haben wir ihr Hühner und Gänse gekauft. Auch Baumaterialien, damit sie das löchrige Dach reparieren lassen kann, Brennholz für den nächsten Winter, damit sie diese Sorge nicht mehr hat.“ Ziel ist für Schörgenhofer, die Familie so zu stärken, dass sie ihre Eigenständigkeit wiedererlangt und sich selbst helfen kann. Dann können die Kinder bei der Oma bleiben und werden nicht aus Armutsgründen von der Jugendwohlfahrt abgeholt.

So stellte Condordia im vergangenen Jahr viele Schafe, Kühe, Hühner und Gänse zur Verfügung, damit Familien sich selbst versorgen und mit den übrigen Erträgen an der immer stärker werdenden Tauschwirtschaft teilnehmen können.

Neuausrichtung

70 km nördlich von Chisinau konnte Concordia mithilfe eines Sponsors 70 ha besten Ackerlands kaufen. Dort soll nun eine soziale Landwirtschaft entstehen, mit dem Anbau von Bio-Gemüse und der Erzeugung von Bio-Eiern. Zehn Jugendliche, die viele Jahre ihres Lebens in Betreuungseinrichtungen verbracht haben, bekommen dort einen Ausbildungsplatz und damit eine Perspektive. Auch zehn Regelarbeitsplätze in der Hühnerhaltung und in den Gewächshäusern sind vorgesehen. Mit den gesunden Lebensmitteln sollen auch die eigenen Suppenküchen und Sozialzentren beliefert werden. Zum Bio-Know-How-Transfer arbeiten Schörgenhofer und Zikeli bereits mit Landwirtschaftsschulen aus der Steiermark zusammen.

Die größte Änderung für Concordia Moldau betrifft aber die „Stadt der Kinder“, wo zuletzt bis zu 240 Kinder gelebt hatten. Was aufgrund der akuten Erfordernisse vor 10 Jahren sinnvoll war - Kinder aus Vernachlässigung, Armut und Gewalt zu holen - verändert sich. Concordia bringt die anvertrauten Kinder - gemeinsam mit der Jugendwohlfahrt - zunehmend in Pflegefamilien unter und baut dazu auch Familienhäuser auf, in denen eine Pflegefamilie mit bis zu sieben Kindern (leibliche und Pflegekinder) leben kann. „Denn Kinder brauchen eine Familie“, ist Schörgenhofer überzeugt. Ein Krisenzentrum mit 20 Plätzen für Akutfälle bleibt daneben weiterhin bestehen.
Im Blick auf die Unterstützung aus Österreich erinnert Michael Zikeli - auch jetzt im Spätsommer - an die Weihnachtsgeschichte: „Ich bitte darum, auf die Barmherzigkeit nicht zu vergessen.“


Der Artikel erschien im KirchenBlatt Nr. 37 vom 10. September 2015