Oder: Was Gott im Leben schenkt. Von Pastoralamtsleiter Dr. Walter Schmolly

Hellhörig und hellsichtig den Weg gehen

Den Weg gehenWer 40 wird, der fragt nach Zukunftsbildern, nach seiner Berufung, die Mut und Orientierung für eine nächste Lebensphase gibt. Für das kirchliche Leben ist diese Frage heute eingebettet in Veränderungen, die groß und vermutlich auch nachhaltig sind. Der Priestermangel und überhaupt die Verknappung der Ressourcen sind ein Motor dieser Veränderungen; ein anderer sind die geistesgeschichtlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen und ihre Auswirkungen auf Gestalt und Rolle des Religiösen im privaten und öffentlichen Leben. Wir haben uns diese Veränderungen größtenteils nicht ausgesucht. Umso wichtiger ist es, das Christentum gerade auch in diesen Veränderungen als ein Ereignis der Freiheit zu begreifen, also die Frage zu stellen, wie wir diese Veränderungen nicht nur passiv erleiden müssen, sondern die Aspekte an unserer Situation lieben lernen, die sein müssen, und all das gestalten lernen, was sich gestalten lässt.
Innehalten, sehen, hörenDas erfordert, dass wir innehalten, um gemeinsam zu sehen und zu hören, was sich tut: Was vergeht heute im kirchlichen Leben, was hat Bestand und wo ist Neues im Werden? Diese "Zeichen der Zeit" wollen in einem zweiten Schritt gedeutet werden - vom Evangelium her, mit den Augen des Glaubens, aus einem weiten Herzen: Was ist der Ruf des Geistes in dieser Situation? Und letztlich braucht es auch den Mut zu Entscheidungen, zumindest zu denen, die die nächste Etappe gut gehen lassen.
Etwas vom Wichtigsten in dieser Zeit ist, dass wir uns gegenseitig geschwisterlich stärken in dem Vertrauen, dass auch heute "die Ernte groß ist" (Mt 9,37), und in dem Wunsch, hinter allen Dingen und Veränderungen den zu entdecken, der sich der Welt zugesagt hat als der "Ich-bin-da" (Ex 3,14).

Die Strukturfragen bestmöglich lösen

Orientierung, Hoffnung, ZuversichtDas Netzwerk Kirche hat viele Orte, von den Klöstern und Pfarrgemeinden über die Caritas, den Religionsunterricht, die Erwachsenenbildung und die Krankenhausseelsorge bis hin zur Internet-Seelsorge. Die Situationen und aktuellen Herausforderungen sind in den verschiedenen Bereichen sehr unterschiedlich. Für das pfarrliche Leben stellen sich gegenwärtig vor allem auch strukturelle Fragen: Wie lassen sich die Dienste und die Leitungsaufgaben in den Pfarren mit künftig deutlich weniger Priestern so organisieren, dass die Beteiligten und die Gemeinden damit gut leben können? Welche überpfarrlichen Kooperationen sind erforderlich und hilfreich? -Solche Strukturfragen müssen rasch bestmöglich gelöst werden, wissend dass unter den gegebenen weltkirchlichen Rahmenbedingungen der Beigeschmack von Notlösungen nicht zu vermeiden sein wird. Doch das Entscheidende und gleichzeitig die große Chance für die Kirche in unserer Zeit liegt tiefer. Es stellt sich heute nämlich ganz neu die Grundfrage der Kirche: Wo erlebt sich heute ein Mensch als von Gott beschenkt, als Glaubender, Hoffender, Liebender? Wie entdecken und empfangen wir und die Menschen, mit denen wir leben, diese Gaben Gottes in unserem Leben und welche Rolle kann dabei der Kirche (als "Zeichen und Werkzeug" dieses Wirkens Gottes) zukommen? Wir dürfen uns im kirchlichen Leben - so scheint mir - zwei Bewegungen anvertrauen, die sich gegenseitig tragen.

Aus den Anfängen leben ...

Alle Wege führen zu einem Anfang"Am Anfang des Christseins steht nicht ein ethischer Entschluss oder eine große Idee, sondern die Begegnung mit einem Ereignis, mit einer Person, die unserem Leben einen neuen Horizont und damit seine entscheidende Richtung gibt." (Benedikt XVI.) Dieser österlich-pfingstliche Anfang in Jesus von Nazaret ist ein mitgehender Anfang. Seine Kraft, die Grunderfahrung des Christlichen, wird im kirchlichen Leben morgen präsenter sein als heute. Der Herr "hat uns die Gnade geschenkt, uns zu Gliedern seines mystischen Leibes zu machen, und will uns als seine lebendigen Glieder gebrauchen", sagt Edith Stein und fügt hinzu, dass er die mystischen Gnadenbezeugungen "gerade Frauen in besonders verschwenderischer Weise spendet". Es ist immer mehr diese spirituelle Dimension, die Menschen in der Kirche suchen.

... und sich in die Weite tragen lassen

Die Erfahrung des Anfangs ist die Erfahrung einer Liebe, die allen Menschen gilt, einer Liebe, "in der Gott sich ohne Ausnahme mit allen Menschen vereint" (Fr. Roger Schutz, Taizé). So trägt die Erfahrung des Anfangs je neu in die Weite, um mit den Menschen und Geschöpfen, die Gottes Liebe immer schon erreicht hat, in Beziehung zu sein - barmherzig, solidarisch, dialogisch und missionarisch, je nachdem, wozu der Geist in der konkreten Situation (be-)ruft.
Am Anfang steht eine BegegnungWir werden in der gottgeschenkten Bewegung in die Weite die Erfahrung machen, dass die Kirche "sich im Außen nicht verliert, sie findet sich dort" (R. Bucher). Auch deshalb, weil sich dort immer wieder neu und unverbraucht die Frage stellt, was das Evangelium und die Nachfolge Jesu in der konkreten Situation bedeuten.
Meiner Einschätzung nach sind das die großen Herausforderungen 40 Jahre nach der Errichtung unserer Diözese - näher betrachtet sind es Geschenke Gottes mitten im Leben: das Vertrauen in den Anfang, in das Evangelium Jesu Christi als einer Kraft, die hier und heute Menschen zu berühren und Leben zu erschließen vermag; das wache und gutherzige Interesse an dem, was Gott im Leben jedes Menschen wirkt; und der Mut, der Liebe Gottes in die Weite zu folgen, zu den Menschen und Geschöpfen, mit denen wir leben, denen wir Nächste sind und immer mehr werden dürfen.

Der Beitrag ist erschienen in der Jubiläumsnummer (Nr. 49) des Vorarlberger KrichenBlattes vom 8. Dezember 2008