Zu Hause bin ich überall, meint Bischof Erwin Kräutler. Oft ist er unterwegs im größten Bistum Brasiliens. Dort – im Amazonasgebiet – suchen viele „die künftige Stadt“, die ihnen Arbeit und Nahrung bieten soll.

Serie "MenschenGerecht - Fastenzeit mit Erwin Kräutler"
Teil 1 : Als Volk Gottes unterwegs

Oft fragen mich die Leute: „Wo wohnst du eigentlich?“ Sie wissen, dass Altamira der „Bischofssitz“ ist, wissen aber genauso, dass ich nicht immer in Altamira „sitze“, sondern von Gemeinde zu Gemeinde ziehe. Meine Antwort ist schon beinahe formelhaft: „Ich bin überall zu Hause!“, oder: „Wir sind alle unterwegs!“
Das hat zunächst mit dem Bistum am Xingú zu tun, dem flächenmäßig größten Kirchengebiet Brasiliens. Über eine halbe Million Menschen leben in Städten, Dörfern, Weilern, am Fluss selber und an seinen Nebenflüssen, entlang der Überlandstraßen und deren Nebenstraßen. Priester, Ordensleute, Bischof, alle haben wir „keine bleibende Stadt“ (Hebr 13,14).
Aber nicht nur wir. Das Volk Gottes selbst ist auf dem Weg. Seit Jahrhunderten ist der Xingú Ziel immer neuer Migrationsschübe. Inmitten des Urwaldes hat die Regierung Tausende Familien aus allen Bundesstaaten angesiedelt, weitere Tausende kamen und vervielfachten die Einwohnerzahl in den Randbezirken der Städte. Und jetzt strömen wieder unzählige Leute an den Xingú und suchen Arbeit.

Gigantische Zuwanderung
In diesen Tagen und Wochen erleben wir eine Zuwanderung in einem bisher nie da gewesenen Ausmaß. Belo Monte ist die Ursache. Altamira wird zuerst von Menschen überflutet, erst später dann vom Wasser des geplanten Stausees. Alle kommen sie mit hohen Erwartungen und voller Hoffnung auf eine bessere
Zukunft.

Jesus für Arme
Irgendwie sind Arme immer unterwegs und verstehen deshalb auch eher, was mit pilgerndem Gottesvolk (vgl. Lumen Gentium, 9) gemeint ist. In den Basisgemeinden und Bibelrunden lernen sie die Geschichte des Jesus von Nazareth kennen, der von Ort zu Ort zieht und den Menschen vom Reich Gottes erzählt (vgl. Mt 4,23).
Jesus wendet sich vor allem den Randgruppen zu und preist Arme, Trauernde, Landlose, Verfolgte selig (vgl. Mt 5,3–12; Lk 6,20–23) – nicht weil es ihnen schlecht geht, sondern weil sie selbst in Not und Elend Töchter und Söhne Gottes sind und bleiben – und weil ihnen diese Identität und Würde niemand nehmen kann.
Jesus vermittelt ein ganz anderes Gottesbild als manche der Schriftgelehrten. Gott ist Abbá, ein treuer Vater, eine liebende Mutter, er ist Vater Unser (Mt 6,9). Alle sind wir Geschwister, füreinander verantwortlich, mit-
einander unterwegs, aufeinander angewiesen. Und Gott ist mit auf dem Weg in unserem Einsatz für eine gerechte Welt, die hier und jetzt beginnt und einst im „neuen Jerusalem“ (Offb 21,2) die Vollendung findet. Jesu Frohe Botschaft an die Menschen ist die Utopie vom Reich Gottes.

Die Liebe Gottes erfahrbar machen
„Die Kirche ist von Christus gesandt, die Liebe Gottes allen Menschen und Völkern zu verkünden und mitzuteilen“ (Ad Gentes, 10). So steht es im Dekret des II. Vatikanischen Konzils über die Missionstätigkeit der Kirche.
Die Kirche hat also den Auftrag, die Liebe Gottes stets neu in Raum und Zeit, über alle Grenzen hinweg und in allen Kulturen erfahrbar zu machen. Als pilgernde Kirche soll sie eine arme Kirche sein. Jesus wollte keine bollwerkähnliche, von der Basis abgehobene, thronende Kirche mit komplizierten Strukturen. Christus nachfolgen heißt, die Nähe zu den Armen und zu den Anderen suchen. Aber es geht nicht darum, andere zu erobern und zu bevormunden.

Die Entdeckung des Nächsten
Die Entdeckung des Nächsten und des Anderen ist allemal eine Gotteserfahrung. Die Kirche Jesu darf sich niemals in einen abgeschirmten Raum zurückziehen. Sie lebt unter den Menschen. In ihr dürfen sich alle daheim fühlen. Sie soll eine liebende, solidarische, geschwisterliche Kirche sein, die die Menschen mit all ihren Hoffnungen und Sehnsüchten kennt und versteht und ein offenes Herz hat für ihre Nöte und Ängste. „Ich habe Mitleid mit diesen Menschen“ (Mk 8,2), rief Jesus aus. Das Beispiel Jesu verpflichtet sogar, diese Liebe bis zum Äußersten zu leben (vgl. Joh 13,1 und Joh 19,30).

Impuls

Mein Besitz. Nehmen Sie sich fünf Minuten Zeit und fertigen Sie eine Liste von Dingen an, die Sie besitzen. Wie geht es Ihnen mit Ihrem Besitz? Was ermöglicht er Ihnen? Was belastet eher?

Betrachtung. Lesen Sie aufmerksam eine der im Beitrag angegebenen Schriftstellen, z. B. über die Seligpreisungen (Mt 5,3–12; Lk 6,20–23). Welche Empfindungen spüren Sie, wenn Sie die Schrifttexte und Ihre Liste betrachten?
Zustimmung? Inneren Widerstand?

Antwort. Versuchen Sie, eine Antwort zu finden: Was kann ich tun, um der Kirche Jesu (besser) zu entsprechen?