"Simone Weil ist unvergleichlich. Originell wie Originale eben sind. Ungewöhnlich, in jedem denkbaren Fall" - schreibt Dr. Walter Buder, Chefredakteur des KiBlattes.

ZUR PERSON

Simone Weil (1909 - 1943). Französische Philosophin, Mystikerin. Aufgewachsen in einer großbürgerlichen, jüdischen Familie. Nach Absolvierung der "Ecole Normal Superieur", Philosophielehrerin am Gymnasium in Le Puy. Engagiert sich für Arbeitslose und Fabrikarbeiten. Heftige Kritik am Kapitalismus und am Marxismus. Ab 1936 befasst sich die Agnostikerin zunehmend mit religiösen Fragen. 1938 hatte sie ihre erste mystische Erfahrung. Vertritt eine "politische Mystik". Flieht von der Gestapo nach Marseille, dann nach Amerika und 1942 nach England. Sie stirbt 1943 an Hunger und Tuberkulose im Krankenhaus von Ashford/Kent.

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Nur mit dem Leib bewaffnet (Serie Teil 1)

Plötzlich aufstehn
vom Mittagstisch
nur mit dem Leib bewaffnet
zu den lachenden Hyänen wandern

(Nelly Sachs)

Simone Weil ist unvergleichlich. Originell wie Originale eben sind. Ungewöhnlich, in jedem denkbaren Fall. Ein Solitär, wäre sie ein Edelstein. Exzellent und radikal in allem, was ein Menschenleben angeht. Im Handeln und Denken, in der Wahrheit und der Hingabe, in der Liebe und im Tod.
Man wird nie recht fertig mit solchen Menschen, deren Normalität schon jede Grenze übersteigt. Ihre Gedanken und die Geschichten, die sie machen, sind Juckpulver für den Geist, den akademischen und wissenschaftlichen, aber auch für den des – wie unmodern – einfachen Volkes, das Poesie nötig habe als Lebensmittel, als Seelennahrung, aber eine Poesie, wie Schwarzbrot, das eben nähre, aber zwischen den Zähnen knirschen müsse.

Rebellisches Kind der Moderne.
Die unzähligen Meter an Gedrucktem – seit den ersten posthum nach 1943 publizierten Schriften – kritisieren, verstehen und deuten, forschen und analysieren, was sie in ihren 34 Lebensjahren dachte, dichtete und lebte, wofür und wogegen sie kämpfte und was ihr zugestoßen und widerfahren ist. Im Jahr der Wiederkehr ihres 100. Geburtstages zählt sie zu Geistesgrößen des 20. Jahrhunderts, ein rebellisches Kind der Moderne, deren Ruinen wir inzwischen – unter anderen auch mit Simone Weil – lesen lernen können und sollen, manchmal müssen.

Die „rote Jungfrau“.
Die „lachenden Hyänen“, zu denen sie in ihrer Zeit wanderte, hießen Hitler, Franco, Stalin, der Krieg und ein bestialischer, menschenversklavender Kapitalismus. Die Pariser Arzttochter, die jugendliche „rote Jungfrau“, stand gegen all das auf, in einer anarchischen Spontaneität, ihren messerscharfen, freien, geschulten Verstand einsetzend und „nur mit dem Leib bewaffnet“. Das Bild der Dichterin zeichnet die Aufständische in ihrer Suche nach Gewaltlosigkeit im revolutionären Kampf. Sie war eine Riesin im Geist, während sich ihr Körper schwach, mit vielerlei Krankheiten behaftet – eine in schweren Schüben auftretende Migräne begleitete sie zeitlebens – derart durch die Welt schleppte, der Schwerkraft unter-,  aber niemals erliegend. 

Christus begegnet.
In die Lebenserfahrung eingebettet und bewährt in der Geistesarbeit macht sie auf ihrer „Wüstenwanderung“ ab 1933 geistliche, mystische Erfahrungen. „Christus ist hernieder gestiegen und hat mich ergriffen“ – dreimal ist ihr das geschehen, berichtet sie bewegt und bewegend in einfachen Worten die Verwandlung ihres Geistes, seine wahrhafte und einzig wahre Radikalisierung (= Verwurzelung). Eigenartigerweise und irgendwie fraglos ist es der katholische Glaube, zu dem sie findet, eine Art „anima naturaliter catholica“ – die allerdings trotz (vielleicht aber auch wegen) dieses mystischen Schubes diesseits der Schwelle der Kirche bleibt. Der blinde Dominikaner  Joseph-Marie Perrin muss ein genialer Seelsorger gewesen sein. In ihm begegnete sie 1940 in Marseille (auf der Flucht vor den Nazis) der Botschaft Christi, die sie von nun an inspirierte, beseelte und ihr Herz für die Wege der universalen Liebe Gottes öffnete.

Weg der Wahrheit.
Sie entdeckt in diesem ganz neuen, unmachbar-geschenkten Licht die Konturen einer Glaubensgestalt, die sie für sich adoptiert und  vorweg einmal ausdenkt in Gedanken und Überlegungen vorausschauend nachzeichnet, ahnend – nein: wissend, dass ihre Zeit kommen wird: „Christus liebt es, dass man ihm die Wahrheit vorzieht, denn ehe er Christus ist, ist er die Wahrheit. Wendet man sich von ihm ab, um der Wahrheit nachzugehen, so wird man keine weite Strecke wandern, ohne in seine Arme zu stürzen.“ – Und das ist noch lange nicht alles.


buder_walter_dr_chefredakteur_2008Zum Autor: Dr. Walter Buder
ist Chefredakteur beim Vorarlberger KirchenBlatt. Er studierte Theologie in Innsbruck und Lyon (F) und hat über Leben und Werk von Simone Weil promoviert. 
        




Literaturangaben:

(1) Nelly Sachs, In Wüsten gehen (um 1960, Anfangszeilen eines Simone Weil gewidmeten Gedichtes); nach Erika Schweizer, Geistliche Geschwisterschaft. Nelly Sachs und Simone Weil - eine theologischer Diskurs. Mainz 2005; hier S. 478, Anm. 35

(2) Charles Jacquier (Hg.), Lebenserfahrung und Geistesarbeit. Simone Weil und der Anarchismus. (Verlag Graswurzelrevolution) 2006.

(3)
Zeugnis für das Gute. Traktate - Briefe - Aufzeichnungen. Olten/Freiburg (Walter) 1979, 2. Aufl.


aus KirchenBlatt Nr. 40/2009