Caritas, Kirche und Kreativität. Von Prof. DDr. Clemens Sedmak, Salzburg

verletzt_nikkySie erinnern sich an Michael Köhlmeiers bemerkenswertes Buch "Idylle mit ertrinkendem Hund"? An die Szene, in der zwei Männer bei einem Winterspaziergang in Hohenems einen Hund auf einem Teich sehen, der durch das Eis eingebrochen ist und zu ertrinken droht? Der eine Mann läuft weg, kann es nicht mit ansehen, will Hilfe holen; der andere Mann, der Ich-Erzähler bleibt allein zurück. Allein mit einem ertrinkenden Hund. Was soll er tun?  -  Das sagt dir kein Buch und das sagt dir keine Selbsthilfegruppe und das sagt dir kein teures Seminar über das Realisieren deiner Potentiale. Hier bist du mit allem, was deine Persönlichkeit ausmacht, auf dich gestellt, und du musst eine Entscheidung treffen und handeln. Noch einmal: Das hast du nicht in einem Kurs gelernt und auch nicht während des Studiums und auch nicht durch Techniken. Hier bist du mit deinem ganzen Menschsein gefordert. Das ist ein Punkt, der in den meisten leadership-Ausbildungen übersehen wird: Entscheidungsträger müssen in einer einzigartigen Situation, auf die sie nicht vorbereitet sind, entscheiden und handeln. Auch unter Druck (ein Hund ertrinkt!), auch in der Einsamkeit (dein Begleiter hat dich verlassen). Hier machen sich Charakterschwächen und Persönlichkeitsdefizite grausam bemerkbar.

möwe startetDas ist ein erster Auftrag an das soziale Handeln der Kirche: Wir brauchen reife Menschen, entwickelte Persönlichkeiten in Entscheidungspositionen. Menschen, die in der Kirche eine Führungsposition innehaben, müssen daran interessiert sein, zu wachsen, an sich zu arbeiten. Pedro Arrupe, der langjährige Generalobere der Jesuiten, hat dies so ausgedrückt: Menschen mit Führungsverantwortung müssen in einer Kultur der Selbsterneuerung leben. Eine Kultur der Selbsterneuerung - sie zeigt sich in den Büchern, die du liest, in den Gesprächen, die du führst, in der Art und Weise, wie du deine Freizeit verbringst. Ja, Freizeit: Ein reifer Mensch wird sich um ein Leben im Gleichgewicht bemühen, das genügend Raum für Schlaf, Bewegung und Freundschaften lässt. In dieser Reihenfolge. Erst dann kommt die Arbeit. Jesus erscheint in den Evangelien als ein maßvoller Mensch, der isst und trinkt, sich ausruht (auch während eines Sturmes!), Feste feiert und betet; Grenzen setzt - erinnern wir uns an die Begebenheit, bei der Jesus die Menge hinter sich lässt, um zu beten? Da waren noch so viele, die geheilt werden wollten, die ein Anliegen hatten. Jesus hat Maß gelebt, eine Grenze gesetzt. Die Glaubwürdigkeit der Kirche hängt ganz entscheidende mit der Glaubwürdigkeit der Entscheidungsträger zusammen. Und diese Glaubwürdigkeit ruft nach Reife. Das deckt sich sehr schön mit den Einsichten in Augustinus' "Bekenntnissen" oder in Teresa von Avilas autobiographischer Schrift "Buch meines Lebens". Diese beiden großen geistlichen Gestalten lehren, dass Eitelkeit und Habgier, Ängstlichkeit und übertriebener Ehrgeiz Hindernisse auf dem Weg zum Wachstum sind. Hier werden wir uns in der Kirche kritisch fragen müssen, ob wir auch gezielt an diesen Hindernissen und deren Abbau arbeiten.

hand in hand_foto fc fischerEin zweiter Auftrag an die Kirche: Sei auf Seiten derjenigen, die am meisten benachteiligt sind. Wir sollten als Kirche mehr am Dienst interessiert sein, als uns mit uns selbst zu beschäftigen; mit dem Dienst an Menschen, die uns brauchen und die benachteiligt sind. Am meisten benachteiligt in einer Gemeinschaft sind die Menschen, denen das Gut der Mitgliedschaft vorenthalten ist - weil sie zu alt oder zu arm, zu krank oder zu jung, zu ungeboren oder zu ausländisch sind. Mit schleichend steigenden Standards vermehren sich die Möglichkeiten, hinausgedrängt zu werden. Hier ist eine auch klare politische Option gefragt - aber auch Kreativität. Die Kirche möge nicht nur die Stimme erheben für die, die keine Stimme haben, sie möge sie auch zum Handeln ermächtigen und zum Leben ermuntern. "Caritas" hat dann viel mit Buntheit und Kreativität, mit neuen Ideen und Anstößen zu tun. Die Idee von Mikrokreditsystemen, die Idee von Straßenzeitungen, die Idee von "Caritassemmeln" sind gute, innovative Ideen. Warum soll der Auftrag der Kreativität allein den Künstlerinnen, Künstlern und Unternehmen vorbehalten sein? Auch die Caritas ist eingeladen, innovativ sein.

herz aus händen_Ein dritter Auftrag an uns alle: Liebe zu leben. Caritas ist die Liebe, die Jesus Christus nachfolgt. Einen Menschen zu lieben, heißt, nach einem Wort von Reinhold Niebuhr, Freude über diesen Menschen zu empfinden und Dankbarkeit, und ihm Loyalität und Ehrfurcht entgegen zu bringen. Liebe ist eine Tugend nach Einsicht des heiligen Thomas von Aquin und diese Tugend kann eingeübt und gepflegt werden und ist auf die Gnade Gottes angewiesen, dass sich diese Tugend in uns entfalten mag. Pedro Arrupe hat nachdrücklich dazu eingeladen, Freundschaften mit Menschen zu pflegen, die von Armut betroffen sind. Denn es handelt sich um Menschen, und nicht um "Arme", also um Menschen, die sozusagen hauptberuflich und in erster Linie arm wären. Es sind Menschen. Und wir haben eine Pflicht zu teilen. Sehen Sie sich bitte einmal zwei Bibelstellen an: 1 Chr 29,10-20 und 2, Kor 8-9. Das ist eine Bitte. Oder auch die Einladung zu einer Hausübung. Hier steht dann deutlich, dass die Kraft zum Teilen ebenso wie all unser Reichtum von Gott kommen und dementsprechend mit Dankbarkeit, Demut und einer Haltung des Teilens verwaltet werden mögen. Bitte lesen Sie nach!

stressEin vierter Auftrag an das soziale Handeln der Kirche: Ein guter Arbeitgeber sein. "Kirche als guter Arbeitsplatz" - das soll nicht nach einem Fremdwort klingen. Die Katholische Soziallehre mögen durch alle Poren der Kirchenstruktur hindurch verwirklicht werden. Die Katholische Soziallehre erinnert uns daran, dass menschliches Arbeiten und Wirtschaften einem dreifachen Sinn dient - der Existenzsicherung, dem Aufbau des Gemeinwohls und der schöpferischen Selbstverwirklichung des Menschen. Kann dies die Kirche als Arbeitgeberin gewährleisten? Kann sie für gute Arbeitsplätze sorgen? Was macht einen guten Arbeitsplatz aus? Ein guter Arbeitsplatz, hat nach Martin Seligman damit zu tun, dass die Menschen mit ihrer Arbeit Freude und Sinn verbinden und Anerkennung erfahren. "Freude" soll nicht etwas sein, was durch die Arbeit, die den Lebensunterhalt sichert, ermöglicht wird, sondern soll in der Arbeit selbst gefunden werden können. "Sinn" soll erkennbar und vom Arbeitnehmenden nachvollziehbar sein, sodass er auch mit innerer Motivation und einer weiteren Vision bei der Sache ist. "Anerkennung" hat schließlich mit der Frage zu tun, ob und wie Wertschätzung ausgedrückt wird; dass Geld hier keineswegs der einzige Faktor ist, steht außer Streit. Hier wird sich die Kirche fragen können, ob sie "Kulturen der Anerkennung" entwickelt und mit Sensibilität und Kreativität auf die Menschen, die für die Kirche, mit ihr und in ihr arbeiten, zugeht. Ein guter Arbeitsplatz ist ein solcher, der Raum für ein Leben mit Maß lässt. - Hier denken wir an überbeschäftigte Überengagierte, an Priester, die regelmäßig ihren offiziell freien Tag opfern; an Bischöfe, die unter Schlafdefiziten leiden; an die verheirateten Diakone, die an Abenden und Wochenenden von der Familie getrennt sind. Die Kirche hat diesen Auftrag, auf das Maß der Arbeit zu achten - und gleichzeitig, wenn ich das hinzufügen darf, Heiligen den Weg zu ermöglichen; der Pfarrer von Ars, um es deutlich zu sagen, war kein Mensch der "life/work balance". Ich lasse diese Einsicht einmal als "Stachel im Fleisch" stehen.

zwiegespräch_bhmuellerEin fünfter Auftrag für das soziale Handeln der Kirche: Beten. Man kann es nur so klar sagen. Die Beziehung zu Gott pflegen. Stets aus der Mitte heraus leben. Auf Gottes Beistand zu vertrauen, um Gottes Segen zu bitten. Fest daran glauben, dass Gott nicht ferne ist, sondern ein lebendiger Gott ist, der nicht einfach alles geschehen lässt, sondern auch wirkt und wendet, alles in Händen hält. Das gibt die Kraft für den langen Weg. In seiner Schrift über das Gebet antwortet Evagrius Ponticus auf die Frage, worum man denn als erstes beten solle - und er antwortet: bete als erstes um die Gabe der Tränen. Diese Gabe, Elend und Leid zu beweinen, ist kostbar. Eine Gabe, die zur Hingabe führen kann, zum Dienst an den Menschen. Und damit will ich nicht sagen, um auf den Anfang zurückzukommen, dass Köhlmeiers Ich-Erzähler den ertrinkenden Hund tatenlos hätte beweinen sollen.

Diese fünf Appelle deuten auf fünf Wunden hin - Unreife, Armutsferne, Lieblosigkeit, menschenunfreundliche Arbeitsverhältnisse, vertrocknetes Gebetsleben. Und diese fünf Wunden sind gleichzeitig fünf Brote, die nähren und Kraft für den Weg geben: Reife und Arbeit an uns selbst; Dienst an Menschen, die von Armut betroffen sind; Einüben in eine Kultur der Liebe; gute Arbeit; Leben aus der Mitte mit dem Blick auf Gott. Ja, mit dem Blick auf Gott. 

Der Autor:
Clemens Sedmak, geb. 1971, verheiratet, drei Kinder, ist Professor für Sozialethik am King's College London, Universität London und Leiter des Zentrums für Ethik und Armutsforschung der Universität Salzburg.

Der Beitrag ist in der Jubiläumsausgabe des Vorarlberger KirchenBlattes (Nr. 49, 8. 12. 2008) erschienen.