Rohr RichardIn seinen täglichen Meditationen, die der Franziskaner-Pater Richard Rohr (New Mexico / USA) per Mail verschickt und die sich zur Zeit mit der "Praxis der Bewusstheit" beschäftigen, fragt er am Montag dieser Woche nach den geistigen Etikettierungen der Welt durch das Urteilen.

"Alle spirituellen Lehrer sagen uns: Urteile nicht!' Für jene von uns, die in einer religiösen Umgebung aufgewachsen sind, ist das sehr schwierig. In seltsamer Weise hat uns die Religion einen Doktor-Titel im Urteils-Wesen ('judgmentalism') erteilt. Sie erzog uns schon sehr früh im Leben dazu zu kategorisieren, zu etikettieren und zu kritisieren. Sie sagte uns alles über Wert und Unwert. Dieser bewertende Geist sagte uns, was richtig und was falsch ist, wer homo- und wer heterosexuell ist, wer gut und wer schlecht ist. Diese Art von Geist erschafft niemals großartige Menschen, denn jeder hat sich unserer Weise des Denkens anzupassen. Schon in jungen Jahren war unser Koordinatennetz vollständig. Wir hatten entschieden, wer da hineinpasste, und wer nicht. Wir hatten unsere eigene kleine Welt geformt.

Ein christlicher Glaube, der die Welt in dieser Weise unterteilt und alle schwierigen Menschen  und alle Vorstellungen eliminiert, die sich von unserer Art zu denken unterscheiden, kann keine reife Religion sein. Dieser Glaube kann weder die vielfachen Geschenke eines jeden Moments sehen noch die dunkle Seite, die mit ihm koexistiert. Dieser Geist führt uns nicht zum Bewusstsein, und - vor allem: Dieser Geist wird es für unmöglich halten zu betrachten ('contemplate'). Die Bewusstheit zu praktizieren bedeutet, dass du im Geist der Gemeinschaft lebst; deine Welt wird lebendig und sehr weitläufig und ist nicht mehr unterteilt durch bloß geistige Etiketten."

Fr. Richard Rohr, Daily Meditation des Centers for Action and Contemplation, 17. Mai 2010.

(Übersetzung von Dietmar Steinmair)