Wie war das noch - die rote oder die blaue Pille? Und je nach Wahl öffnet sich die Welt zur Matrix oder es bleibt alles, wie es ist. Alles nur Film? Denkste! Realer als man denkt, wie Yvonne Hofstetter, Fachfrau für Digitalisierung und künstliche Intelligenz, feststellt. Ob man ihr glauben will? Ungern, aber muss man wohl.

Es ist Morgen: Raus aus dem Bett, unter die Dusche. Haare shampoonieren. Kaffee trinken und dabei einen Blick über die Schlagzeilen des noch frühen Tages gleiten lassen. Ach, was schon wieder alles passiert ist. "Bing", macht's und die erste Whatsapp-Nachricht ist auch schon da, während Facebook Sie daran erinnert, dass der und die gerade ihren Beitrag geliked hat. Übrigens, "Kennen Sie vielleicht?" fragt die Online-Vernetzungsplattform. Und ja, den kennen Sie wirklich. So über 70 Ecken, aber ja, man kennt sich und schon ist man verbunden. Jetzt aber nichts wie raus und hinein in den morgendlichen Berufsverkehr. 

Ganz normal?

Ein ganz normaler Morgen in ganz, ganz vielen Haushalten. Auch in Vorarlberg. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Nicht ganz. Denn, was sich hier als so normal "tarnt" ist nichts anderes, als die Summe von Entscheidungen, die eine künstliche Intelligenz im Hintergrund auf Basis gesammelter, persönlicher Daten getroffen hat. Gut, das ist jetzt sicher verkürzt formuliert, aber im Prinzip ist es das: die Daten, die wir über Facebook und Co. so bereitwillig und mitteilungsfreudig in die Welt streuen, die sammelt jemand. Und dieser "Jemand" wird mächtiger und mächtiger, je mehr Daten wir ihm überlassen. Denn diese Daten über uns, unser Leben, unser soziales Umfeld, unsere Interessen und Vorlieben, sind u. a. die Basis, auf der uns Facebook, Twitter, Instagram und Co unsere digitale Welt zusammenbasteln. Ja, richtig - unsere ganz persönliche und individuelle digitale Welt. 

Digitalisierung ist Individualisierung

"Das Ziel der Digitalisierung ist die maximale Individualisierung", erklärt Yvonne Hofstetter. Sie ist gerade zu Gast in Bregenz, im Kloster Thalbach. Ein interessanter Ort für eine interessante Referentin. Und siehe da: der Saal ist voll.

Yvonne Hofstetter ist studierte Jusristin. Sie ist Essayistin - FAZ-Mitherausgeber Frank Schirrmacher war u. a. ihr Mentor - und ganz nebenbei auch noch IT-Unternehmerin. Ihr Unternehmen, die Teramark Technologies GmbH, beschäftigt sich u. a. mit künstlicher Intelligenz, Industrie 4.0 und Big Data. Yvonne Hofstetter weiß also, wovon sie spricht.

Wem bei Big Data, Digitalisierung und Industrie 4. 0. jetzt nur die Fragezeichen vor den Augen zu tanzen beginnen, der ist in guter Gesellschaft. So ergehe es nämlich rund 60% aller derzeit Beschäftigten in Deutschland, erklärt Hofstetter. Beim Stichwort "Big Data" schnelle dieser Wert sogar auf rund 90%. Und doch ist "Big Data" real und ganz nah dran an jedem/r Einzelnen.

Dabei macht Yvonne Hofstetter auch deutlich, dass die zunehmende Digitalisierung des Lebens ganz klar in die Kategorie der Kulturleistungen einzuordnen ist. Digitalisierung ist eine Leistung des Menschen, es ist - in gewisser Weise - die Überwindung der Natur durch den Menschen.

Big Data und jetzt?

Nur, was man damit macht und wie man das macht, das ist die Frage. Und da hakt Yvonne Hofstetter ein. "Unser aller Leben hat sich spätestens im Jänner 2007 komplett verändert. Damals stand Steve Jobs auf der Bühne und hielt in seiner Hand das erste IPhone", führt Hofstetter zurück in die Kindertage der Smartphones und erinnert daran, dass mit dem Einzug der Smartphones auch das Zeitalter der Vermessung begonnen habe. 

Vermessung? Ja, Vermessung. Teilweise sogar Selbstvermessung. Denn wer kennt sie nicht, die Apps, die mitzählen, wie viele Schritte man täglich zurückgelegt hat und dadurch errechnen, wie fit man denn sei. Wer davon noch nichts weiß, der durchstöbere mal sein Smartphone, das App ist garantiert da - und es zählt mit.

Oder, anderes Beispiel: Wer heute ganz unbedarft Fotos mit seinem Smartphone schießt, dem sei mal anempfohlen, sich die Daten, die mit den Schnappschüssen gespeichert werden, genauer anzusehen. Da steht dann nämlich ganz plötzlich ganz genau, wo und wann der Auslöserknopf gedrückt wurde - wer will, der kann sich seine fotografischen Bewegungen sogar noch auf einer Google-Map anzeigen lassen.

Schöne, neue Welt

Das ist doch alles nicht schlimm? Nein, prinzipiell nicht. Aber es sind Daten über uns und unser Leben - und sie werden gesammelt. Schrittzähler und Standortinformationen sind hier erst Stufe eins. Facebook, Twitter, Instagram, Whatsapp oder Google sind dann die Ausbaustufen. "Wenn ich mit Menschen über Big Data rede, dann höre ich immer wieder diesen einen Satz: ,Na und, ich habe ja nichts zu verbergen.' Damit beziehen sich die Sprecher/innen meist auf ihre Vergangenheit. Aber wen interessiert denn ihre Vergangenheit. Es geht ja um die Zukunft", so Hofstetter. Und da geht's ans Eingemachte. Und zwar so: "Die Daten, die wir durch unser Verhalten in Facebook und Co hinterlassen, werden gesammelt, analysiert und mit den Daten unserer Freunde und sozialen Kontakte vernetzt. So werden Situationsanalysen und Profile erstellt", und mit diesen Profilen wird gearbeitet. Auf Basis dieser Profile wird nicht nur entschieden, welche Werbung und Produktvorschläge uns online unterbreitet werden, nein, diese Profile sind auch "schuld" daran, welche Nachrichten wir in den sozialen Netzwerken überhaupt noch zu Gesicht bekommen. Es geht aber noch weiter: "Anhand unserer Daten werden Prognosen erstellt - sind wir depressiv, sind wir fröhlich, sind wir kreditwürdig, sind wir Alkoholiker, sind wir gefährdet, straffällig zu werden,...", fährt Hofstetter fort.

Wie wahrscheinlich ist es, dass ...

Da wird es dann auch kritisch.  Denn was, so Hofstetter, zunächst Wirtschaft und Industrie vorangetrieben haben, um z. B. unser Kaufverhalten zu steuern, das wird nun für "Wahrscheinlichkeitsrechnungen" herangezogen. Wie wahrscheinlich ist es, dass wir im Laufe des nächsten Jahres krank werden, gewalttätig werden, eine Depression bekommen etc. "Und plötzlich bekommen wir einen Job nicht mehr und wundern uns, wieso. Stellen Sie sich nur einmal vor, diese Daten und die daraus erstellten Profile landen bei den Versicherungen, bei medizinischen Einrichtungen, bei Ihrem Arbeitgeber. Und denken Sie nur nicht, dass Sie im Internet anonym sind. Es ist sehr leicht, sehr schnell herauszufinden, wer Sie sind."

Und weiter geht's. Wie wahrscheinlich ist es, dass jemand sich radikalisiert. Hurra! Endlich! Straftaten, Gewalt, Terror können jetzt also schon im Vorfeld verhindert werden. Klingt doch gut, oder? Ja, aber. Denn die Profile, die von künstlicher Intelligenz da über uns erstellt und errechnet werden, erzielen eben keine 100%ige Trefferquote. Nein, da gibt es eben auch "Falschzuordnungen". Und was ist mit denen? "Haben Sie vom Drohnenkrieg in Pakistan gehört? Anhand von sieben Musterlebensläufen wurden Profile für Terroristen erstellt. Sieben Profile, um die Bevölkerung eines Landes zu filtern. Das ist Wahnsinn. Dann wurden Drohnen losgeschickt, um diese Terroristen auszuschalten. Und 1000e Unschuldige wurden so schlichtweg ermordet."

Rechtfertigt das eventuelle Verhindern einer Tat in der Zukunft das Sterben Unschuldiger in der Gegenwart?

"Guten Tag, Sie werden demnächst eine Straftat begehen"

"Jetzt denkt man sich, ok, Pakistan ist weit weg. Aber es geht auch näher. In Chicago wird heute zum Beispiel stark am Einsatz des predictive policing, der vorausschauenden Polizeiarbeit, gearbeitet. Das heißt, dass anhand unserer Daten, Listen erstellt werden, auf denen sich jene finden, die als potenziell straffällig ausgewiesen werden. Leisten sich diese Menschen dann auch nur die geringste Auffälligkeit, trifft sie der Arm des Gesetzes mit voller Wucht. Sind Sie übrigens einmal auf einer dieser Listen, kommen Sie da nie wieder runter." Auch in Europa werde übrigens an Programmen wie diesen gearbeitet.

Brave User/in, jetzt gibts ein Goodie

Und um das Gruselkabinett komplett zu machen, wird Yvonne Hofstetter noch das Stichwort "Nudging" ins Rennen. Das heißt nichts anderes, als dass anhand unserer digitalen Daten errechnet wird, welche "Knöpfe" man bei uns drücken muss, um ein gewünschtes Verhalten auszulösen. "Nudging"-Techniken wurden, so Hofstetter, u. a. auch bei der Wiederwahl Barack Obamas eingesetzt. Da wurden genaue Wählerprofile erstellt und jede/r bekam genau die Information, die er oder sie für seine/ihre ganz individuelle Situation brauchte. Rund vier Prozentpunkte habe Obama mit derartigen Techniken gut gemacht. Und Obama ist, so mutmaßt man, sicher kein Einzelfall.

Das ist dann auch schon die Crux an dieser ganzen Individualisierung. Jede/r bekommt nur noch die Information, die zu ihm/ihr passen. Was das für Information bzw. Nachrichten bedeutet, kann sich jede/r selbst ausmalen. Die Pippi-Langstrumpf-Methode - "Ich mach mit die Welt, wie sie mir gefällt" - verkehrt sich hier gegen sich selbst.

Human Enhancement - der Natur ein bisschen helfen

Wenn wir schon dabei sind, dann helfen wir doch auch der Natur ein bisschen auf die Sprünge. Der Mensch ist dann eine Maschine, die man dann natürlich auch verbessern kann. "Daran arbeitet man u. a. im Silicon Valley. Und was das mit unserem Menschenbild macht, das können wir uns selbst ausmalen. Das Bild des freien, souveränen Menschen ist dann Geschichte", führt Yvonne Hofstetter noch kurz in die Welt des Human Enhancement, also der Entwicklungsschiene, die sich damit beschäftigt, wie man das "Wunderwerk Mensch" technisch noch etwas aufmotzen könnte. Und die implantierten Chips, die menschliche Defizite ausgleichen, seien hier nur der Anfang.

Liebe Staaten, schützen Sie Ihre Bürger/innen

Und ist jetzt einfach alles schlecht, was mit online und Digitalisierung zu tun hat? Nein. Aber es braucht, so Hofstetter, Regeln und Bewusstseinsbildung. Das fängt bei den einzelnen Staaten an, die sich darum kümmern müssen, die Datenhoheit für ihre Bürger/innen zu sichern, das geht beim Gesetzgeber weiter, der das Datensammeln zu regulieren hat, und das endet mit der Selbstregulierung der User/innen. "Wir leben in der Zeit des Informationskapitalismus. Und hier geschehen Eingriffe in unsere Grundrechte als Menschen. Dessen müssen wir uns bewusst sein", appelliert Hofstetter an ihr Publikum. Yvonne Hofstetter selbst ist übrigens Mitinitiatorin der Charta der digitalen Grundrechte der Europäischen Union. Und sie ist eine von vielen Fachfrauen und -männern, die hier umdenken.

Umdenken, das ist das Stichwort. "Seien Sie sparsam mit Ihren Daten", ist ein anderer Satz, mit dem man den Vortragssaal im Kloster Thalbach an diesem verregneten Abend verlässt. Und beim nächsten suchenden Griff in die Tasche, finden die Finger das Smartphone doch etwas zögerlicher. Ach nicht so schlecht. 

 

Yvonne Hofstetter

Wurde 1966 in Frankfurt am Main geboren. Sie ist Juristin, Essayistin und Sachbuchautorin. Zu ihren Mentoren zählte u. a. FAZ-Mitherausgeber Frank Schirrmacher.

Yvonne Hofstetter ist seit 1999 international in Softwareunternehmen tätig, die sich Automatisiertem Handel beschäftigen. Sie ist Geschäftsführerin der Teramark Technologies GmbH die im Bereich der Künstlichen Intelligenz, der Industrie 4.0 und des Big Data tätig ist.

Yvonne Hofstetter besitzt kein Smartphone und hat keinen Facebook-Account.

www.yvonnehofstetter.de

Bucherscheinungen

  • "Das Ende der Demokratie. Wie die künstliche Intelligenz die Politik übernimmt und uns entmündigt", C. Bertelsmann Verlag, München 2016
  • "Sie wissen alles: Wie intelligente Maschinen in unser Leben eindringen und warum wir für unsere Freiheit kämpfen müssen", C. Bertelsmann Verlag, München 2015