Der diesjährige diözesane Besinnungstag stand unter dem Thema "Barmherzigkeit". Rund 70 Frauen und Männer lauschten im Pilgersaal in Bildstein den Ausführungen von P. Christian M. Rutishauser SJ. Er verstand es, anhand dieses alten Begriffes das Wesen des Christentums auszuleuchten und neue Perspektiven zu öffnen.

Der Besinnungstag gestaltet sich vielseitig. Gesänge, Zitate von Papst Franziskus, Gespräche am Tisch oder im Freien.  Besondere Wirkung hat die Musik von Herbert Walser-Breuss, der mit seinen sich wiederholenden Klängen eine beinah sphärische Atmosphäre schafft und so die Worte in neue Dimensionen hebt. Ebenso prägend sind die Impulsreferate von P. Christian Rutishauser, der neue Sichtweisen auf das alte Wort bringt und damit sogar Zukunftperspektiven kreiert.

Durch Papst Franziskus ist ein Wort in aller Munde, über das vor wenigen Jahren noch kaum gesprochen wurde: Barmherzigkeit. Das neue Wort, so Rutishauser, soll aufrütteln und in die Mitte hineinführen. Es soll neue christliche und kirchliche Identiät aufbauen und die Krise, in der die Weltkirche steckt, überwinden. Schon mit diesen Anfangsthesen legt der Provinzial der Schweizer Jesuiten die Latte hoch für dieses Wort, das in unserer Alltagssprache praktisch keine Rolle spielt.

Eine wenig populäre Tugend

Im ersten Teil seiner Ausführungen fragt Rutishauser nach der Bedeutung von Barmherzigkeit in der christlichen / kirchlichen Identität. Sie zeigt sich in vier Bereichen: Glaube, Liturgie, Struktur und Ethik. Kommt Barmherzigkeit im Glauben vor? Erleben sie Menschen in der Liturgie? Hat sie einen Platz wenn es um Autorität eines Bischofes geht? Ist sie ein Thema in der christlichen Ethik, im Kirchenrecht, in Verlautbarungen und Erlässen?

Rutishauser siedelt Barmherzigkeit bei den Tugenden an. Dabei hält er fest, dass sie stets in Verbindung mit den anderen Tugenden stehen muss - mit Gerechtigkeit, Tapferkeit, Klugheit und Mäßigung - den Kardinaltugenden - mit Glauben, Hoffnung und Liebe - den theologischen Tugenden. Denn was wäre Barmherzigkeit ohne Gerechtigkeit oder ohne Liebe? Erst ihre Einbettung in die anderen Tugenden gibt ihr ihre Kraft. Insofern könnte Barmherzigkeit als vierte theologische Tugend bezeichnet werden, als "eine Haltung und ein Handeln der Liebe in Bezug auf ein Gegenüber, das sich in einer unterlegenen oder defizitären Situation befindet." Der Mangel bzw. die Not bezieht sich dabei auf ein materielles oder geistiges Gut, auf Krankheit oder Schuld, Scheitern oder Begrenzung.

In den klassischen Werken der Barmherzigkeit, die sieben leibliche und sieben geistig Werke umfassen, wird das Wort in Tun-Worten beschrieben. Rutishauser ermutigt hier, konkrete Anweisungen für das Tun zu geben, vor "Checklisten" nicht zurückzuschrecken, sie sind heute in vielen Ratgebern zu finden. Schließlich entscheidet sich die Güte eines Menschen an seinen Taten. "Es gibt nichts Gutes, außer man tut es."

Die Kritik der anderen

Einen kritischen Blick wirft der Jesuit auf den Begriff "Barmherzigkeit" aus der Perspektive anderer Wissenschaften. Die Theologie wirft hier Werkgerechtigkeit vor, die Psychologie ein vom Über-Ich geleitetes Leistungsdenken. Die Anthropologie spricht davon, dass der Begriff zu paternalistisch ist, die Ethik sieht die Gerechtigkeit untergraben und ausgehöhlt. Die Philosophie hält ihn für zu subjektiv und emotional, die Soziologie für zu individualistisch und zu wenig strukturell.

Rutishauser nimmt die Kritiken ernst und warnt davor, in Fallen hineinzutappen. Er spricht von einer "reifen Barmherzigkeit". Diese zeigt sich kritisch gegenüber Idealismus und Perfektionismus. Sie anerkennt die Begrenztheit und Schuldhaftigkeit aller Menschen - schon vor ihrem Tun. Reife Barmherzigkeit geht von einem dialogischen Humanismus aus, der den Menschen immer in Beziehung sieht und dem es nicht um die Entfaltung einer Person als Individuum geht. Das Menschenbild der reifen Barmherzigkeit ist dynamisch und wachstumsorientiert. Sie fördert und führt und fordert. Sie ist mitfühlend und zielorientiert zugleich, schenkt immer wieder einen Neuanfang. Sie stellt den Mangel nicht bloß sondern gibt hier vielmehr einen Schutzmantel. Sie denkt persönlich und strukturell zugleich, macht sich also bemerkbar in Gesetzen, Entwürfen u.a.

Kernbotschaft der Bibel

Der Blick in die Bibel zeigt, dass "Barmherzigkeit" immer schon ein zentrales Wesensmerkmal von Gottes Handeln war - auch in den alttestamentlichen Schriften. Zwei Perspektiven wählt Rutishauser zur Veranschaulichung: Gott als Schöpfer und Gott als Erlöser.

Das Staunen über die Schöpfung, das Überwältigtsein angesichts der Vorgänge in der Natur sind seid Jahrtausenden Ort religiöser Erfahrung. "Dazu müssen wir das nicht Fassbare an uns heranlassen, uns einordnen in ein viel größeres Universum und anschauen lassen. Dort spüren wir etwas von Barmherzigkeit." Rutishauser wählt Texte aus der Weisheitsliteratur, aus Jesaja und den Psalmen, in denen Gott als Schöpfer beschrieben wird. Damit verbindet sich das "Glück, existieren zu dürfen" und von Gott beim Namen gekannt zu werden.

Auch Rolle des Erlösers ist zentral in der Heiligen Schrift. Vom Herausführen des Volkes Israel aus der Versklavung in Exodus 3 über die Gottesnamen, die in Exodus 34 genannt sind bis zum Name "Jeshua", der selbst die Rettung durch Gott zum Ausdruck bringt. Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter veranschaulicht den Barmherzigen schlechthin. Rutishauser verweist dabei auf die Umkehrung der Eingangsfrage am Ende der Erzählung. Aus dem "Wer ist mein Nächster?" wird "Wem habe ich mich als Nächster erwiesen?"

Zur Frage des Aktiven gesellt sich die Frage des Empfangens - ob wir an uns barmherzig handeln lassen können. Hier führt Rutishauser die Opfertheologie an, die heute für viele schwer verständlich ist. "Gott hat seinen Sohn für uns hingegeben." Der Jesuit deutet diese Aussage als radikale Hingabe, als Unterbrechung der Gewaltspirale durch Gewaltlosigkeit. "Die Kraft der Liebe und Barmherzigkeit ist die transformative Kraft, die Gewalt überwinden kann." Wir inszenieren sie in jeder Eucharistiefeier.
Im Osterlamm zeigt sich das Opfer, das sich mit dem Täter versöhnt hat. Am Ostermorgen gibt es keinen Augenblick des Vorwurfes, nur das "Friede sei mit euch".

Barmherzigkeit als Spiritualität für den Alltag

Was Barmherzigkeit konkret bedeutet, erkennen wir am Handeln Gottes, die Frage "Was würde Jesus tun" ist hier gute Richtlinie. In der Bibel ruft Gott selbst oft zur Nachahmung auf, die Imitatio Dei ist somit klassischer Weg zur Barmherzigkeit, von der Aufforderung, den Fremden nicht zu unterdrücken über die Fußwaschung bis zum Satz: "Wer mein Jünger sein will, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir."

Beispiele für eine Spiritualität der Barmherzigkeit gibt es viele. Caritas, gelebte Nächstenliebe, ist eine davon. Ob das Wirken von Mutter Theresa und der Einsatz für Flüchtlinge - hier wird Barmherzigkeit konkret, die uns von Gott aufgetragen ist. Barmherzigkeit zeigt sich auch in geistig-geistlicher Bildung. Gerade in einer Zeit, in der es unheimlich viel psychische und geistige Not gibt, in der Menschen innerlich verwahrlost sind, unfähig mit Gefühlen und Scheitern umzugehen.
Schließlich verweist Rutishauser auf die Liebesmystik. Es geht darum, Liebe annehmen zu können, aus der Quelle, an der wir sitzen, auch zu trinken, Werke zu tun und dabei auch genährt zu werden.

Das Schreiben des Papstes

Abschließend liest Rutishauser aus der Verkündigungsbulle von Franziskus. "Franziskus sieht den Akt der Öffnung gegenüber der säkularen Gesellschaft als Akt der Barmherzigkeit." Wir haben uns 50 Jahre geöffnet, uns veräußert, sodass wir beinahe leer sind. So gilt es für die Kirche, wieder zur Mitte zu kommen, einen Mittelweg zu finden, der nach vorne offen für die Gesellschaft ist und zugleich das Mystische behält.