Bei seiner Rede vor dem Europaparlament zeichnete Papst Franziskus ein Bild des europäischen Kontinentes, das nachdenken lässt. Europa sei dabei, "seine Vision und Identität zu verlieren". Zu dieser Identität gehöre unter anderem das Bewusstein für Transzendenz. Wenn dieses fehle, gerate auch der Schutz der Menschenwürde in Gefahr.

Das Lächeln, das Papst Franziskus beim Hinflug nach Straßburg den Journalisten zeigte, behielt er auch vor seinem ersten großen Auftritt auf internationaler Bühne. Auch wenn er die Atmosphäre im weiten Rund des Europaparlaments in Straßburg offenbar ein wenig ungewohnt empfand. Mit großer Spannung war diese bisher "politischste" Rede des argentinischen Papstes am Dienstag erwartet worden. Umweltschutz und Familie, Flüchtlinge oder überhaupt die Solidarität in der Gesellschaft könnten die Schwerpunkte sein, wurde gemutmaßt.

Verlust von Identität und Vision

Doch dann, nach der Begrüßung durch Parlamentspräsident Martin Schulz, der den "Papst von der anderen Seite des Atlantik" als große Stimme für echt europäische Werte willkommen hieß, erlebten die Parlamentarier zunächst einmal etwas anderes: Der lateinamerikanische Papst zeichnete ein ungeschminktes Bild von einem Europa, das dabei sei, seine Vision und seine Identität zu verlieren.

"In vielen Bereichen haben wir heute den Eindruck von Verzagtheit und Alterung, von einem Europa, das wie eine 'Großmutter' wirkt, nicht länger fruchtbar und vibrierend." Der vergreisende Kontinent scheine sein Selbstbewusstsein und seinen Optimismus verloren zu haben, je mehr sich sein fortschreitender Machtverlust in der globalisierten Welt abzeichne. Die Bürger verlören zudem in der wirtschaftlichen Krise das Vertrauen in die EU-Institutionen. Dabei bleibt die europäische Einigung für Franziskus ein großartiges Projekt des Friedens und der Solidarität.

Bewusstsein für Transzendenz

Europas Identität machte der Gast aus Rom auch, aber nicht nur, an seinen christlichen Wurzeln fest. Auch in säkularen Systemen sei das Christentum mehr als Europas vergangenes Gesicht. Die Religion könne - und die Kirche wolle - auch künftig eine prägende Rolle für die soziale und kulturelle Entwicklung des Kontinents spielen, betonte der Papst. Ohne das Bewusstsein für die Transzendenz des Menschen gerät aus seiner Sicht auch der Schutz der Menschenwürde in Gefahr.

Auch in Straßburg fiel sein Wort von der "Wegwerf-Kultur", die nur ökonomischen Interessen gehorche und jeden, der nicht dem Profit diene, unter den Tisch fallen lasse: Alte, Kranke, Migranten, Arbeitslose bis hin zu Kindern, die im Mutterleib getötet würden. Auch seine Kritik an der hohen Jugendarbeitslosigkeit in Europa wiederholte er vor den Abgeordneten eines Kontinents, in dem durchschnittlich jeder Fünfte zwischen 15 und 24 Jahren erwerbslos ist.

Flüchtlingsfrage

Energisch forderte er die Europäer auf, auf das Flüchtlingsdrama im Mittelmeer endlich mit einer gemeinsamen Strategie zu antworten. "Die Boote, die täglich an den Küsten Europas landen, sind gefüllt mit Männern und Frauen, die Annahme und Hilfe benötigen", sagte er. Das Mittelmeer werde zu einem "großen Friedhof". Viel Applaus erhielt der Papst für sein Lob der alternativen Energie. Allerdings brauche es nicht nur den Umweltschutz, sondern eine "Ökologie des Menschen" - ein Begriff Benedikts XVI. aus dessen Rede vor dem deutschen Bundestag 2011.

Für seine rund zwanzigminütige Rede erntete Franziskus fraktionsübergreifend stehende Ovationen. Überhaupt waren nur rund 30 Sitze bei den Sozialisten freigeblieben, einige Abgeordnete der Fraktion der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten erschienen mit regenbogenfarbenen Boas als Protest gegen die kirchliche Haltung zur Homosexualität.

Vor dem Europarat

Für Franziskus' zweite Rede vor dem Europarat hatten die Gastgeber eigens das Rednerpult aus dem Museum geholt, an dem vor 26 Jahren Papst Johannes Paul II. gesprochen hatte - vor einem gänzlich anderen europapolitischen Hintergrund. Anders als vor dem EU-Parlament, wo die sozialen Themen dominierten, sprach Franziskus vor der parlamentarischen Versammlung des Europarates stärker real- und machtpolitische Dimensionen an.

Immer noch gebe es Krieg und tägliches Sterben in Europa - eine klare Adresse an Russland im Konflikt um die Ukraine. Auch die explizite Erwähnung Moskaus als ehemals drittes Zentrum neben Rom und Byzanz wies in diese Richtung. Heute jedoch herrsche das Prinzip der Multipolarität. "Es ist unmöglich, Europa zu bauen, ohne diese multipolare Wahrheit in Rechnung zum ziehen."

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