1909 - 1943 Philosophin, Agnostikerin, Mystikerin. Sie ist keine Feministin und auch keine Frau, der man nacheifern will. Schon gar nicht möchte man ihr Leben der eigenen Tochter (oder irgendeiner anderen jungen Frau) wünschen. Und dennoch strahlt sie bei genauerem Hinsehen eine Faszinationskraft aus, die sich dem hastigen, nach Rollenvorbildern suchenden Blick entzieht. Die Radikalität ihres Denkens und Lebens, ihre unbeugsame Suche nach der Wahrheit, das Zeugnis ihrer mystischen Erfahrung – all das vermag zu fesseln. Ihr Lebensweg, sprengt bei weitem die vorherrschenden Rollenbilder ihrer Zeit: Philosophielehrerin, Fließbandarbeiterin bei Renault, Unruhestifterin, „rote Jungfrau“ (diesen Spitznamen verdankt sie ihrem Engagement für die ArbeiterInnen), Pazifistin, Widerstandskämpferin und Freiwillige im spanischen Bürgerkrieg, agnostische Jüdin und (christliche) Mystikerin.

Im Schatten des großen Bruders

Dabei hat ihr Leben ganz „normal“ begonnen, als sie 1909 als zweites Kind in eine Pariser Arztfamilie geboren wird. Ihre Eltern sind jüdischer Abstammung, allerdings spielt Religion im Hause Weil keine große Rolle. Dafür sind Bildung und Sauberkeit von großer Bedeutung – beides wird Simones Leben dauerhaft prägen. Mit ihrem um drei Jahre älteren Bruder und Mathematik-Genie André, den sie bis zur Selbstaufgabe bewundert, rivalisiert sie um intellektuelle Brillanz. Weil sie sich ihm nicht gewachsen fühlt, leidet sie an Minderwertigkeitskomplexen, die durch ihre physische Langsamkeit, die so gar nicht mit der raschen Auffassungsgabe ihres Geistes in Einklang steht, noch verstärkt werden. Mit 14 Jahren durchlebt sie deshalb eine schwere Krise, die sie Jahre später in einem Brief an den befreundeten Benediktinerpater Perrin so beschreibt: „Mit vierzehn Jahren verfiel ich einer jener grundlosen Verzweiflungen des Jugendalters, und ich wünschte ernstlich zu sterben, wegen der Mittelmäßigkeit meiner natürlichen Fähigkeiten. Die außergewöhnliche Begabung meines Bruders, dessen Kindheit und Jugend sich mit derjenigen Pascals vergleichen lässt, zwang mich, mir dessen bewusst zu werden. Nicht dies schmerzte mich, dass ich auf äußerliche Erfolge verzichten sollte, sondern dass ich niemals hoffen durfte, den Zugang zu jenem transzendenten Reich zu finden, zu dem einzig die echten großen Menschen Zutritt haben und in dem die Wahrheit wohnt. [...] Nach Monaten innerster Verfinsterung empfing ich plötzlich und für immer die Gewissheit, dass jedes beliebige menschliche Wesen, ... in dieses dem Genie vorbehaltene Reich der Wahrheit eindringt, sobald es nur die Wahrheit begehrt und seine Aufmerksamkeit in unaufhörlicher Bemühung auf ihre Erreichung gerichtet hält.“ (Zeugnis 106) Die Schulung der Aufmerksamkeit wird für Simone in der Folge zu einem zentralen Anliegen. Dass Simone der intellektuellen Brillanz ihres Bruders nicht nachsteht, zeigt indes die Tatsache, dass sie 1928 als beste ihres Jahrgangs (gefolgt von Simone de Beauvoir) die Aufnahmeprüfung für die rennomierte École Normale Supérieure ablegt. Es folgen ein Philosophiestudium und später die Lehrtätigkeit als Philosophieprofessorin an verschiedenen französischen Schulen. 

Unbequeme Kämpferin für die Rechte der ArbeiterInnen

Doch Simone Weil zieht sich nicht in die Welt intellektueller Glasperlenspiele zurück. Sie engagiert sich gewerkschaftlich, hält Reden bei diversen Protestveranstaltungen – exponiert sich ohne Angst vor eigenen Nachteilen. Durch körperliche Arbeit will sie sich zwingen, jede Einbildung oder Traumwelt zu verlassen und mit der Wirklichkeit in Kontakt zu kommen. Ihre Weiblichkeit verdrängt Weil aufgrund ihrer Ablehnung des bürgerlichen Lebensmodells, innerhalb dessen Gleichberechtigung von Frauen damals kaum realisierbar ist. So wählt Weil, anders als ihre Zeitgenossin Simone de Beauvoir, die Verleugnung der Weiblichkeit, um ihren politisch und sozial engagierten Lebensentwurf möglichst weit verwirklichen zu können. Mit der ihr eigenen Radikalität und Konsequenz lässt sie sich von ihrer Lehrtätigkeit beurlauben, wird Arbeiterin in verschiedenen Fabriken, unter anderem bei Renault. Es geht ihr darum, die Ursache für die Unterdrückung der ArbeiterInnen zu erforschen. Ihre Erfahrungen hält sie im Fabriktagebuch fest: Die schwere, körperlich überfordernde Arbeit, Erschöpfung bis an den Rand der Selbstzerstörung, Erfahrungen der Rivalität und des Neides unter ArbeiterInnen, später auch der Solidarität. Weil sie die in der Akkordarbeit erforderlichen Stückzahlen nicht erbringt, fühlt sie sich als Versagerin – wie eine Sklavin ohne Rechte. Die Bilanz am Ende ihres Tagebuchs: „Was gewann ich bei diesem Experiment? Das Gefühl, kein Recht zu besitzen, welches es auch immer sein und worauf es auch immer sich beziehen mag. Achtgeben, dieses Gefühl nicht zu verlieren.“ (Beyer 61)

1936 geht Weil nach Spanien, um dort – wie auch andere linke Intellektuelle aus Europa und Amerika – als Freiwillige mit der Waffe in der Hand auf der Seite der Republikaner zu kämpfen. Doch schon bald erkennt sie, wie rasch die Mechanismen der Gewalt und Gegengewalt auch ein legitimes Anliegen pervertieren und zu menschenverachtenden Taten führen. Nach einem Unfall kehrt Weil ernüchtert nach Frankreich zurück. 

Ich habe nie Gott gesucht

Immer wichtiger werden ihr in dieser Zeit spirituelle Erfahrungen. Dabei sagt sie von sich selbst: „Ich kann sagen, dass ich mein ganzes Leben lang niemals, in keinem Augenblick, Gott gesucht habe.“ (Zeugnis 104) Und tatsächlich hat Weil, im agnostischen Elternhaus aufgewachsen, Schwierigkeiten mit der jüdischen Herkunft ihrer Eltern – Schwierigkeiten mit dem oft gewalttätig erscheinenden Gott des Alten Testaments, die sie dazu veranlassen, scharfe, oft auch ungerechte Kritik am jüdischen Glauben zu üben. Jedes anthropomorphe Gottesbild lehnt sie ab, betont Gott als den ganz anderen, Jenseitigen: „Wenn wir hienieden einen Vater zu haben glauben, dann ist nicht er es, dann ist es ein falscher Gott. Wir können nicht einen einzigen Schritt auf ihn hin tun. Man schreitet nicht senkrecht hinauf. Wir können nur unseren Blick auf ihn richten. Es geht nicht darum, ihn zu suchen; nur die Blickrichtung muss man ändern. An ihm ist es, uns aufzusuchen.“ (Zeugnis 63) 

Drei Begegnungen mit dem Katholizismus, die wirklich zählen

Und tatsächlich wird sie, die Aufmerksame, Wartende, nach Gehorsam dem göttlichen Willen (nicht Menschen!) gegenüber Strebende, die mit Schmerz und Unglück Vertraute, von Gott aufgesucht. In ihren Briefen an Pater Perrin berichtet sie von drei Berührungen mit dem Katholizismus, die sie zutiefst geprägt haben: Die Riten und Gesänge beim Patronatsfest in einem armen portugiesischen Fischerdorf, wo sie das Christentum als Religion der Armen, der Leidenden und damit auch ihrer selbst erkennt; Eine mystische Erfahrung in Assisi; und schließlich die Erfahrung bei den Ostergottesdiensten 1938 in der Benediktinerabtei Solesmes: „Ich hatte bohrende Kopfschmerzen; jeder Ton schmerzte mich wie ein Schlag; und da erlaubte mir eine äußerste Anstrengung der Aufmerksamkeit, aus diesem elenden Fleisch herauszutreten, es in seinen Winkel hingekauert allein leiden zu lassen und in der unerhörten Schönheit der Gesänge und Worte eine reine und vollkommene Freude zu finden. Diese Erfahrung hat mich auch durch Analogie besser verstehen lassen, wie es möglich sei, die göttliche Liebe durch das Unglück hindurch zu lieben.“ (Zeugnis 110)

Von Christus berührt

Simone Weil wird beinahe ihr ganzes Leben hindurch immer wieder von extremen Kopfschmerzen gequält. Während einer dieser Attacken rezitiert sie das Gedicht „Love“ von George Herbert: „Ich glaubte, nur ein schönes Gedicht zu sprechen, aber dieses Sprechen hatte, ohne dass ich es wusste, die Kraft eines Gebetes. Einmal, während ich es sprach, ist ... Christus selbst hernieder gestiegen und hat mich ergriffen. In meinen Überlegungen über die Unlösbarkeit des Gottesproblems hatte ich diese Möglichkeit nicht vorausgesehen: die einer wirklichen Berührung, von Person zu Person, hienieden, zwischen dem menschlichen Wesen und Gott. ... ich empfand nur durch das Leiden hindurch die Gegenwart einer Liebe gleich jener, die man in dem Lächeln eines geliebten Antlitzes liest.“ (Zeugnis 111) Die Agnostikerin, die Zweiflerin, die bereit ist, die Wahrheit Christus vorzuziehen, erfährt sich ganz von ihm erfasst. Neben ihre alte, vorsichtige Haltung gegenüber dem Glauben („vielleicht ist das alles nicht wahr“) tritt nun eine zweite: „Vielleicht ist das alles wahr“. (vgl. Zeugnis 115f)

Ringen mit der Kirche

Trotz dieser Erfahrung will Simone Weil sich nicht taufen zu lassen. Die ausschließende Definitionsmacht der Dogmen, der Charakter der Kirche als soziale Einrichtung und die Angst vor ihrer eigenen „Herdennatur“ hindern sie daran: „Nicht als ob ich meinem Temperament nach ein ausgesprochener Individualist wäre. Ich fürchte mich aus dem entgegengesetzten Grunde. Ich habe eine starke Neigung zum Herdentier in mir. Ich bin meiner natürlichen Veranlagung nach äußerst beeinflussbar und vor allem für kollektive Einflüsse übermäßig empfänglich. Ich weiß, dass, wenn ich in diesem Augenblick zwanzig junge Deutsche vor mir hätte, die im Chor ihre Nazilieder absängen, ein Teil meiner Seele unverzüglich von dem Nazismus angesteckt würde. ... Ich fürchte den Kirchenpatriotismus, der in katholischen Kreisen herrscht.“ (Zeugnis 97) Dennoch schließt Weil die Taufe für sich – zumindest für den Zeitpunkt des Todes – nicht aus und tatsächlich berichtet eine Freundin, dass sie Simone kurz vor ihrem Tod auf deren Wunsch hin getauft habe. Simone Weil stirbt im Alter von 34 Jahren in England an Tuberkulose und weil sie es sich aus Solidarität verbietet, mehr zu essen als die Rationen, die ihre Landsleute im besetzten Frankreich erhalten. Ihr Tod bleibt umstritten, wie ihre Person.

Bei allem Schwierigen, Sperrigen, Widersprüchlichen: Simone Weil war eine außergewöhnliche Frau. Unbeugsam in ihrer Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit, schonungslos ehrlich in ihrer Selbsterkenntnis, radikal in ihrem Mitgefühl mit den Leidenden, aufmerksam für Gott. Wie viele ProphetInnen taugt sie nicht als Idol – aber wir brauchen Menschen wie sie.

Zitate und Aphorismen von Simone Weil

Gott hat seine Schöpfung aus Liebe, um der Liebe willen erschaffen. (Zeugnis19)

Die Forderung nach dem absoluten Guten, die im innersten Herzen wohnt, und die, wenn auch virtuelle Macht, Aufmerksamkeit und Liebe über die Welt hinaus zu richten und von dorther Gutes zu empfangen, bilden zusammen ein Band, das ausnahmslos jeden Menschen mit der anderen Wirklichkeit verknüpft. ... Nichts berechtigt uns je, von irgendeinem Menschen zu glauben, dass diese Verknüpfung in ihm nicht vorhanden sei. (Zeugnis75; 77)

Die Sünde ist keine Entfernung. Sie ist eine falsche Blickrichtung. (Zeugnis20)

Wenn ein Mensch sich von Gott abkehrt, liefert er sich der Schwerkraft aus. Er glaubt dann noch zu wollen und zu wählen, aber er ist nur noch eine Sache, ein fallender Stein. (Zeugnis23)

Das Unglück ohne das Kreuz ist Hölle, und Gott hat nicht die Hölle auf Erden eingerichtet (Zeugnis46)

Woran liegt es, dass, sobald ein Mensch merken lässt, dass er eines anderen mehr oder weniger bedarf, dieser letztere sich entfernt? Schwerkraft. (Schwerkraft und Gnade 9)

Die Liebe zu Gott ist rein, wenn Freude und Leid die gleiche Dankbarkeit einflößen. (Schwerkraft und Gnade 89)

An die Existenz anderer menschlicher Wesen als solcher zu glauben, ist Liebe. (Schwerkraft und Gnade 90)

Die Liebe bedarf der Wirklichkeit. Was gibt es Grässlicheres, als eines Tages zu merken, dass man durch eine körperliche Erscheinung hindurch ein eingebildetes Wesen liebt? ... Das ist die Strafe für das Verbrechen, die Liebe mit Einbildung genährt zu haben. (Schwerkraft und Gnade 92)

Der falsche Gott verwandelt das Leiden in Gewaltsamkeit. Der wahre Gott verwandelt die Gewaltsamkeit in Leiden. (Schwerkraft und Gnade 104)

Quellen

Beyer, Dorothee. Simone Weil. Philosophin, Gewerkschafterin, Mystikerin. Grünewald: Mainz 1994.

Weil, Simone. Zeugnis für das Gute. Spiritualität einer Philosophin. Hg. von Friedhelm Kemp. Benziger: Zürich 1998.

Weil, Simone. Schwerkraft und Gnade. Kösel: München 1981.