Spätestens seit sich Landeshauptmann Markus Wallner für ein Aussetzen von religiösen Beschneidungen an den Vorarlberger LKHs ausgesprochen hat, ist die in Deutschland geführte Debatte auch in Vorarlberg angekommen. Der folgende Artikel zeigt die vorgebrachten Argumente und die unterschiedlichen inhaltlichen Dimensionen in der Debatte auf und bietet weiterführende Links zur Vertiefung in die Diskussion. Auf dieser Grundlage folgt eine Stellungnahme aus der Sicht des EthikCenters.

Auslöser für die Diskussion um die Rechtmäßigkeit religiöser Beschneidungen ist ein Urteil des Kölner Landesgerichts vom Mai 2012, wonach diese Beschneidungen als unrechtmäßige Körperverletzung und damit als strafbare Handlung eingestuft wurde. (Genauere Information zu diesem Urteil finden Sie hier.)

Argumente für ein Verbot

Argumente gegen ein Verbot

Grenzen der Religionsfreiheit

Religionssoziologische und -pädagogische Überlegungen

Geschichtliche und minderheitenpolitische Dimension

 

Argumente für ein Verbot

Die Argumente, welche für ein Verbot der rituellen Beschneidung von Minderjährigen eingebracht werden, sind folgende:

1. Jede körperliche Verletzung, die einem Menschen zugefügt wird, kommt im Grunde einem Verstoß gegen das Recht auf dessen Unversehrtheit gleich. Gerade die Beschneidung von Minderjährigen und nicht-Einwilligungsfähigen stellt, so ließe sich argumentieren, eine Verletzung der Fürsorgepflicht seitens der Eltern sowie einen unerlaubten Eingriff in die Unversehrtheit des Leibes und damit eine Körperverletzung dar.

2. Es besteht auch bei diesem Eingriff die Möglichkeit, dass daraus Komplikationen aufgrund von Infektionen etc. resultieren, die den Betreffenden dauerhaft beeinträchtigen. (was bei professioneller Ausführung jedoch sehr unwahrscheinlich ist)

3. Aufgrund einer bedenkenlosen Zulassung der Beschneidung von Jungen wird befürchtet, dass auch der mancherorts praktizierten Beschneidung / genitalen Verstümmelung von Mädchen Vorschub geleistet wird.

Argumente gegen ein Verbot

Folgende Argumente werden gegen ein Verbot vorgebracht:

1.     Es gibt ein Grundrecht auf freie Religionsausübung, das es zu achten gilt. Die Jahrtausende alten rituellen Handlungen, die im Rahmen einer staatlich anerkannten Religionsgemeinschaft durchgeführt werden, sind zentraler Bestandteil religiöser Identität und somit Gegenstand dieses Rechtsanspruchs.

2.     Ein Verbot, solche Beschneidungen an öffentlichen LKHs durchzuführen würde zu einem Abdriften in die Illegalität und damit zu einem erhöhten gesundheitlichen Risiko für die Betroffenen führen.

3.     Beschneidungen, ob aus rituellen oder medizinischen Gründen durchgeführt, sind für ein geschultes medizinisches Fachpersonal ein Routineeingriff, der nur minimale Risiken birgt.

4.     Es besteht durch eine Beschneidung erwiesenermaßen auch ein medizinisch-hygienischer Nutzen: Beschneidungen führen durch das veränderte bakterielle Milieu am männlichen Geschlechtsorgan zu einer Verringerung der Infektionsgefahr. (z.B. mit HIV oder anderen Geschlechtskrankheiten - Näheres dazu finden Sie hier.)

5.     Die Beschneidung von Jungen hat aus religiös-theologischer Sicht nichts mit der unseligen Praxis weiblicher Genitalverstümmelung zu tun. Diese wird weder vom Judentum noch vom Islam als Grundrecht im Sinne der Religionsfreiheit verstanden und von offizieller Seite entschieden abgelehnt.

 

Die ethische Frage nach der Grenze der Religionsfreiheit

Wenn diese Argumente nun gegeneinander abgewogen werden, dann stellen sich ethische Grundfragen, welche geklärt und entschieden werden müssen:
Wo liegt die Grenze für eine religiös motivierte Verletzung des Körpers und der Person?
Ab welchem Schweregrad eines Eingriffes ist das Abwehrrecht auf körperliche Unversehrtheit gegenüber dem Grundrecht auf freie Religionsausübung als stärker zu bewerten?
Diese Fragen sind sowohl beispielsweise beim Thema der verweigerten Bluttransfusion an Minderjährige von Seiten von Mitgliedern der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas als auch bei Beschneidungsthema entscheidend. Wann ist der Zeitpunkt für eine demokratische und aufgeklärte Gesellschaft gekommen, religiöse Riten oder Einstellungen in die Schranken zu weisen?

Die Markierung der Grenze...

Dr. Michael Willam, Leiter des EthikCenters der Diözese, dazu:
„Jedes Recht, auch jedes Grundrecht findet seine Grenze an der Freiheit und Integrität des anderen. Es ließe sich argumentieren, dass diese Grenze dann überschritten bzw. verletzt ist, sobald ein erhöhtes Risiko für dauerhafte körperliche Folgeschäden und Beeinträchtigungen aufgrund einer bestimmten Intervention gegeben ist. (z.B. lebenslange Schmerzen und dauerhafter Libidoverlust bei weiblichen Genitalverstümmelungen oder auch der Tod eines Kindes bei einer verweigerten Bluttransfusion) In solchen Situationen muss der Staat seine Schutzfunktion zum Wohle des Menschen gegen das Recht auf freie Religionsausübung durchsetzen.“

Ebenso wäre diese Grenze überschritten, wenn dauerhafte seelisch-psychische Belastungen, ausgelöst durch Zwangssituationen oder Stigmatisierungen, zu erwarten sind. Im Falle der rituell-religiösen Beschneidungspraxis von Jungen in Judentum und Islam handelt es sich hingegen bei professioneller Ausführung in der Regel um einen harmlosen Eingriff ohne Folgeschäden.

 

Weitere Dimensionen der Debatte

Die Debatte birgt jedoch neben der Diskussion um diese ethischen Grundfragen noch weitere Dimensionen, welche für das Verhältnis von Religion und Gesellschaft als solches von Belang sind.

Die Dimension der religiösen Sozialisation

Zum einen ist die sozial-religiöse Dimension zu diskutieren. Dr. Elisabeth Dörler, Islambeauftragte der Diözese Feldkirch, dazu:
„Es gibt in jeder Religionsgemeinschaft bestimmte Grundvollzüge, die für die Identität der Glaubenden wesentlich sind. Diese vielfältigen religiösen Sozialisationsprozesse in den jeweiligen Glauben hinein gründen auf dem Recht der Eltern, unmündige Kinder in einen Glauben einzuführen, den sie selbst als richtig, wahr und gut erfahren haben. Dieses Recht darf eine Gesellschaft den Angehörigen einer anerkannten Religionsgemeinschaft nicht nehmen. Andernfalls wären christliche Vollzüge wie die Taufe, die Erstkommunion oder die Firmung ebenfalls in Frage gestellt.“

Die pädagogische Dimension

Der Aspekt des Rechts der Eltern auf religiöse Sozialisation ihrer Kinder verweist des weiteren auf die pädagogische Dimension des Themas. Dörler dazu:
„Es stellt sich die Frage der Legitimation sämtlicher Erziehungs- und Sozialisationsmaßnahmen, die Kinder mehr oder minder freiwillig mitmachen müssen: Sportunterreicht, das Erlernen eines Musikinstruments, in die Schule gehen müssen, Impfung – all diese erzieherischen Maßnahmen werden allgemein jedoch als positive Sozialisation und Vorbereitung aufs Erwachsenenleben verstanden. Die Eingliederung in religiöse Grundvollzüge, welche die Erwachsenen als gut und sinnvoll erkannt haben, darf davon nicht ausgeschlossen sein.“

 

Weitere Stellungnahmen

Religiosität als ein für viele Menschen grundlegender Bestandteil menschlicher Integrität und Würde lebt ganz entscheidend von familiärer Prägung und ritueller Praxis, die bei vielen Menschen in der eigenen Kindheit wurzelt. Kardinal Schönborn warnt in einer seiner jüngsten Stellungnahmen zum Kölner Beschneidungs-Urteil vor einer Begrenzung dieser Elternrechte einer religiös-rituellen Erziehung ihrer Kinder. (vgl. kathpress.at)
Auch Heiner Bielefeldt, UNO Sonderberichtserstatter zum Thema Religionsfreiheit, kritisiert das Kölner Urteil und spricht davon, dass die Religionsfreiheit eindeutig das Recht der Eltern auf religiöse Sozialisation ihrer Kinder beinhalte. (Vgl. hier). 

Die geschichtliche und minderheitenpolitische Dimension

Was bei den Stellungnahmen der beiden Präsidenten der Islamischen Glaubensgemeinschaft sowie der Israelitischen Kultusgemeinde, Fuat Sanac und Oskar Deutsch deutlich wurde, ist der minderheitenpolitische Aspekt und die belastete Geschichte zu dieser Thematik. Elisabeth Dörler nimmt dazu auf der Grundlage ihrer langjährigen Erfahrungen im interreligiösen Dialog klar Stellung. Für sie wäre ein Verbot, diese Beschneidungen durchzuführen "ein Affront gegen Juden und Muslime, die damit trotz jahrtausende- bzw. jahrhundertealter Tradition kriminalisiert oder in die Illegalität gedrängt werden. Damit wird auch gesagt: Ihr gehört nicht richtig dazu, eure religiösen Grundwerte sind keine europäischen Werte.“

 

Weitere Links:

Eine Stellungnahme von Dr. Markus Hofer, Männerbüro der Diözese Feldkirch, finden Sie hier.

LH Markus Wallner Vorstoß und die Reaktionen darauf finden Sie hier.

Die Aussagen und Stellungnahmen von Fuat Sanac, dem Präsident der Islamischen Glaubensgemeinschaft Österreich finden Sie hier.

Eine Zusammenfassung der Debatte finden Sie hier.