Gut 60 interessierte BesucherInnen fanden sich am 3. Juli 2014 an einem traumhaften Sommerabend im Foyer der Kulturbühne Am Bach in Götzis ein, um sich ein Bild zu einem brisanten ethischen Thema zu machen: „Prekäre Jobs, prekäre Zukunft? Das System „Amazon“ in der Kritik“

Auf dem Podium:
René Schindler,
Arbeitsrechtsexperte und Bundessekretär der Produktionsgewerkschaft
Thomas Gürlebeck, f
ür Amazon zuständiger Sekretär bei der Gewerkschaft ver.di
Nina Strasser,
NEWS-Journalistin, die zwei Wochen „undercover" bei Amazon gearbeitet hat;
Günter Wohlgenannt,
Buchhändler in Vorarlberg
Moderation: Jutta Berger, Der Standard

Eine Nachbetrachtung von Michael Willam, Leiter des EthikCenters

Stellen Sie sich vor…

Stellen Sie sich vor, Sie haben eine Familie mit drei Kindern und beginnen bei einer neuen Firma zu arbeiten. Als „kleines Detail am Rande“ steht fest: Sie brauchen diese Arbeit, um ihre Familie zu ernähren und ihre Existenz zu sichern. Folgende Bedingungen werden seitens dieser neuen Firma genannt: Nach einem halben Jahr entscheidet sich, je nach dem, wie gut Sie in diesen Job hineingewachsen sind, ob Sie für ein weiteres halbes Jahr verlängert werden. Wenn Sie es geschafft haben, verlängert zu werden, dann wartet nach einem Jahr wiederum eine Beurteilung mit Option auf Verlängerung für ein halbes Jahr – und wenn Sie auch diese Hürde geschafft haben, also gesamt eineinhalb Jahre bei dieser Firma zu arbeiten, dann müssen Sie noch einmal zittern, bis Sie nach zwei Jahren einen unbefristeten Arbeitsvertrag in der Tasche haben. Würden Sie dieses Job-Angebot in ihrer Situation annehmen?

Der Deal und der Trick
Der Online-Versandhändler Amazon verfolgt eine sehr effiziente Art der MitarbeiterInnen-Rekrutierung, wie den interessierten Zuhörern die eingeladene NEWS-Undercover-Journalistin Nina Strasser berichtete: Gute Bezahlung gepaart mit einer knallharten Leistungs-Überwachung und vier halbjährlichen Selektionsmechanismen bis zu einem unbefristeten und zukunftsfähigen Vertrag gehören zum Deal, den auch sie für die Dauer von ein paar Wochen mit Amazon abschloss. Dabei schaffen es nur ganz wenige MitarbeiterInnen, bei Amazon einen unbefristeten Vertrag als ArbeitnehmerIn zu erhalten. „Vielmehr wird die im Grunde unrealistische Aussicht auf eine unbefristete Anstellung als Lockmittel benutzt, um die Menschen auszubeuten“, bringt es Arbeitsrechtsexperte Rene Schindler auf den Punkt.

Amazon als gefragter Arbeitgeber
Der Konzern ist besonders bei niedrig qualifizierten ArbeitnehmerInnen gefragt, da im Grunde keine Vorkenntnisse oder Ausbildungen für die Arbeit nötig sind. Aber auch bei AkademikerInnen, HandwerkerInnen und bei Menschen aus verschiedensten Berufsgruppen, welche die vergleichsweise gute Entlohnung im Blick haben, ist Amazon ein gefragter Arbeitgeber. Doch wieso ist das so? Hat es sich noch nicht herumgesprochen, dass die Aussichten auf einen unbefristeten Arbeitsvertrag bei diesem Konzern schlecht sind? Oder haben sich viele schon an eine Art „Tagelöhner-Dasein“ gewöhnt? Wollen die Menschen heutzutage vielleicht gar kein fixes Arbeitsverhältnis mehr? Wozu dann die ganze Aufregung?

Was heißt eigentlich „prekär“?
Die Tendenz bei Unternehmen wie Amazon, aber auch bei anderen großen Konzernen, lässt sich in Bezug auf das Beschäftigungsverhältnis zu seinen MitarbeiterInnen am ehesten als „zunehmend prekär“ bezeichnen. Doch was bedeutet eigentlich „prekär“ in diesem Zusammenhang?

Zunächst eine Definition des „Statistischen Bundesamtes in Deutschland“:
„Beschäftigungsverhältnisse werden beim Statistischen Bundesamt als prekär bezeichnet, wenn sie nicht geeignet sind, auf Dauer den Lebensunterhalt einer Person sicherzustellen oder deren soziale Sicherung zu gewährleisten. Bei der Einstufung einer Erwerbstätigkeit als prekär sind auch persönliche Lebensumstände des Erwerbstätigen, wie der bisherige Verlauf des Arbeitslebens und der Haushaltskontext, zu beachten.“

Die „Internationale Arbeitsorganisation“ meint dazu:
„Es liegt eine prekäre Beschäftigung dann vor, wenn der Erwerbsstatus eine nur geringe Sicherheit des Arbeitsplatzes sowie wenig Einfluss auf die konkrete Ausgestaltung der Arbeitssituation gewährt, der arbeitsrechtliche Schutz lediglich partiell gegeben ist und die Chancen auf eine materielle Existenzsicherung durch die betreffende Arbeit eher schlecht sind.“

Wollen Menschen wirklich vermehrt in Arbeitskontexten tätig sein, die ihnen weder den Lebensunterhalt sichern noch arbeitsrechtlichen Schutz bieten? Die PodiumsteilnehmerInnen waren sich einig, dass viele Menschen keine Wahl haben und für mehr (auch kurzfristige) Bezahlung auf einiges verzichtet wird.

Das System Amazon
Das „System Amazon“ lässt sich folgendermaßen zusammenfassen:
Ein Anreizsystem (vergleichsweise hohes Gehalt, klare, objektive Leistungskriterien und Aufstiegschancen sowie die – wenn auch geringe - Chance auf Übernahme nach zwei Jahren) verschafft eine hohe Nachfrage an Interessenten. Im Gegenzug lagert Amazon sämtliche Risiken und unternehmerische Verantwortung aus: die Flexibilisierung der Beschäftigungen wird vorangetrieben, um Gewinne zu maximieren. Hinzu kommt ein ausgeklügeltes System zur durchgehenden Überwachung der MitarbeiterInnen. Schindler ist der Meinung, dass „die permanente Überwachung durch automationsunterstützte Systeme eine menschenrechtswidrige Handlung darstellt.“ Er wundere sich darüber, dass das in Deutschland überhaupt möglich sei...

Wer nicht spurt, die fliegt!
Während der Zulauf an Arbeitssuchenden ungebrochen anhält, laufen die Gewerkschaften Sturm gegen eine Unternehmensphilosophie, die man als Gegenentwurf zu jener einer christlich-sozial verantwortlichen Unternehmerschaft sehen könnte: Das Vertrauensverhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer wird ersetzt durch permanente Kontrolle und Leistungsdruck. Statt Entfaltungs- und Entwicklungsmöglichkeiten für die MitarbeiterInnen gilt das Prinzip des bedingungslosen Funktionierens: Wer nicht spurt, der fliegt!

Zudem hat sich diese Art von Unternehmen meilenweit davon entfernt, über eine existenzsichernde Funktion soziale Verantwortung in der Gesellschaft zu übernehmen. Niemand, der bei Amazon zu arbeiten beginnt, kann sich beispielsweise guten Gewissens für die Aufnahme eines Kredites mit entsprechenden Rückzahlungsraten entscheiden, da eine Kündigung im Halbjahrestakt zwei Jahre lang möglich und de facto auch wahrscheinlich ist.
Wie soll sich unter diesen Umständen ein Mensch eine Existenz aufbauen? ArbeitnehmerInnen erscheinen in diesem System als völlig zu beherrschende Ressource, deren Rechte und Interessen schlichtweg nicht interessieren.

Der Protest formiert sich – schließen wir uns als Kirche an!
Es formiert sich Widerstand gegen diese Unternehmens-Philosophie. Thomas Gürlebeck, ebenfalls Podiumsgast und für Amazon zuständiger Ver.di Vertreter, weist in diesem Zusammenhang auf eine Initiative der Gewerkschaft hin: „Wir sind keine Roboter. Wertschätzung statt Dauerkontrolle“. Auch tragen diverse Dokumentationen dazu bei, Druck auf die Konzernführung aufzubauen. (siehe hier eine Doku der ARD  zum Thema)
Was sich hier regt ist Widerstand gegen ein Denken, das durchdrungen ist von einer neoliberalen Profit-Orientierung und dabei massiv gegen die unternehmerischen Prinzipien der sozialen Verantwortung und der Mitmenschlichkeit verstößt.

Was wir tun können in Vorarlberg
Auch wir als Kirche sollten uns diesem Protest anschließen. Schließlich steht so ziemlich alles, was die christliche Soziallehre in den letzten Jahrzehnten für die Bereiche Arbeit und Wirtschaft an Werten und Grundhaltungen geprägt und gefordert hat, mit einer solchen Entwicklung auf dem Spiel.
Ein erster Schritt könnte sein, genau abzuwägen, wo (ob) wir was im Internet einkaufen. "Es ist einfach sehr bequem, zuhause via Mausklick die ganze Palette an Produkten ganz einfach bestellen zu können. Viele Branchen, z.B. auch die Elektronikbranche, geraten durch Internet-Riesen wie Amazon unter Druck" umschreibt Günther Wohlgenannt, Geschäftsführer von "Das Buch" im Dornbirner Messepark die Situation. Die Versuchung, alles nur noch via Mausklick zu kaufen, sei einfach sehr groß.
Auch wenn der Einkauf via Internet sicherlich nicht in allen Fällen ethisch fragwürdig ist, so scheint doch eines klar zu sein:
Es hat einen Grund, wenn Händler immer den billigsten Preis anbieten können - im Falle von Amazon bezahlen diese Rechnung die ausgebeuteten ArbeitnehmerInnen. Durch den bewussten Einkauf möglichst vieler Produkte beim lokalen Händler haben wir eine Möglichkeit, dagegen zu protestieren.

Tipp: Hier finden Sie die gesamte Veranstaltung der Werkstattgespräche zum Nachhören auf youtube.

 

Dr. Michael Willam
EthikCenter