Vielleicht wird 2012 einmal als ein besonderes Jahr betrachtet werden. Nicht so sehr wegen der mit größter Wahrscheinlichkeit nicht eingetretenen Weltuntergangsszenarien, sondern wegen einem höchst fragwürdigen Durchbruch in der Pränataldiagnostik.

Bild rechts: Beim Gesellschaftspolitischen Stammtisch trat letztes Jahr das "No Problem Orchestra" auf. Eine Band, die nur aus Menschen mit Behinderung besteht.

Neuer Test scheidet die Geister
Die genetische Abweichung Trisomie 21 z.B. können die Ärzte künftig mittels eines einfachen Bluttests der Mutter rund um die 12. Schwangerschaftswoche diagnostizieren. Weiters sollen mit diesem Verfahren, welches Erbgutanteile des Kindes im Blut der Mutter identifiziert und analysiert, in absehbarer Zeit sämtliche genetische Auffälligkeiten und Fehlbildungen der heranwachsenden Leibesfrucht zweifelsfrei bestimmt werden können. Was für viele Ärzte eine Erleichterung darstellt – nämlich Mutter und Kind hoch risikoreiche invasive Methoden wie Biopsien oder Fruchtwasseruntersuchungen zu ersparen – lässt bei vielen Menschen die Alarmglocken läuten. Die Tendenz gehe eindeutig in Richtung einer „Schwangerschaft unter Vorbehalt", wie der Humangenetiker Wolfgang Henn in einem Artikel „Der Zeit" vom 16. Mai 2012 kritisch anmerkt.

Würde unter Vorbehalt
Was bedeutet dieser Vorbehalt, so könnte man fragen, für das Gebot der Achtung der Menschenwürde? Diese neue Technik kommt einer Institutionalisierung des Vorbehalts auf die Annahme menschlichen Lebens gleich. Menschliches Leben, das nicht unserem gesellschaftlich geprägten „Idealbild von Menschsein" entspricht, wird systematisch abgetötet und ausgemerzt. In der Debatte ist zum einen eine Wortwahl zu beobachten, welche dieser Entwürdigung Vorschub leistet: Ungeborene Kinder mit der Wahrscheinlichkeit einer Trisomie 21 werden als „Risikofaktor", als „Grund zur Beunruhigung" und implizit als eine Art von „Übel" bezeichnet, welches einer Schwangeren unter keinen Umständen zugemutet werden kann. Die durchgehende Pathologisierung dieser besonderen genetischen Konstellation, die besonders herzliche, lebendige und kontaktfreudige Menschen entstehen lässt, ist angesichts möglicher Universitätsabschlüsse von Betroffenen schlichtweg beleidigend.

Ein unmenschlicher Druck zur Rechtfertigung
Wenn wir aus ethischer Sicht die weitere gesellschaftliche Etablierung und Entwicklung der Anwendung dieser Technik in den Blick nehmen, so zeigt sich schnell, wo die Achtung der Würde des Menschen noch massiv unter Beschuss gerät:
Wenn sich Paare in Zukunft dieser womöglich breit eingesetzten Methode zur Früherkennung genetischer Auffälligkeiten ihrer Kinder aus weltanschaulichen oder persönlichen Gründen verweigern, entsteht aller Voraussicht nach eine Drucksituation, die jeglicher Achtung vor der Unantastbarkeit der Würde des Menschen entbehrt. Diese Paare müssten sich vor der Gesellschaft rechtfertigen, warum sie z.B. einem Kind mit Trisomie 21 das Leben geschenkt haben. Die Stigmatisierung von Menschen mit einer genetischen Auffälligkeit könnte uns in die gleiche Sackgasse führen, wie dies am Ende menschlichen Lebens der Fall ist: Menschen müssen sich für eine bestimmte Eigenart oder Phase ihrer Existenz rechtfertigen. Der pflegebedürftige Mensch auf der letzten Etappe seines Lebens und die Möglichkeiten des assistierten Suizids erzeugen im schlimmsten Fall künftig denselben menschenunwürdigen Rechtfertigungsdruck in Bezug auf die eigene Existenz wie dies Eltern zu spüren bekommen, die sich über ein Kind mit Trisomie 21 freuen.

Die Visitenkarte
Die Aufgabe des Gesetzgebers in Bezug auf eine Wahrung der Menschenwürde ist es, Menschen davor zu schützen, sich für ihre Existenz oder die Existenz ihrer Kinder schämen oder rechtfertigen zu müssen. Diese Schutzfunktion erreicht der Staat durch Gesetze, die z.B. den assistierten Suizid oder die gezielte Selektion menschlichen Lebens verbieten.
Dieses Thema trifft den Kern allen Nachdenkens und Bemühens um eine lebenswerte und menschenfreundliche Gesellschaft: Die Art und Weise, wie wir mit den Schwachen, den „Nicht-Normalen" und nicht gern Gesehenen umgehen, bildet die Visitenkarte unserer Gesellschaft. Was auf dieser Karte in Zukunft steht, bestimmen wir letztlich selbst.

 

Dr. Michael Willam
EthikCenter

Linktipps:
Ein ARD nano spezial zum Thema
Der Artikel in "Der Zeit": "Was Mutters Blut verrät" (16.05.12)