Dieser Junge! Was soll bloß denn aus dem bloß werden? Aus einem, der seine kleine Schwester am Fahnenmast hochzieht und sie dort zappeln lässt. Einer,  der die Mausefalle unter dem Esstisch so platziert, sodass der Zeh des Vaters unweigerlich hineingerät. Einer, der beim Versuch, den letzten Rest Suppe zu ergattern, mit dem Kopf in der Suppenschüssel stecken bleibt. Einer, der die Hühner mit gärenden Kirschen füttert, sodass diese sturzbetrunken im Hof herumtorkeln. Einer, der das Gesicht seiner Schwester Ida mit blauer Tinte beschmiert, sodass die alte Nachbarin, die zufällig vorbeikommt, vor Schreck beinahe einen Herzanfall erleidet, weil sie befürchtet, der in der Gegend grassierende Thypus hätte auch  Klein-Ida befallen.

Dieser Michel! Ein Fall fürs Jugendamt? Schwer erziehbar? Gewalttätig? Gemeingefährlich? Nein. Michel aus Lönneberga, fünf Jahre alt und „stark wie ein Ochse“ ist einer der originellsten und liebenswertesten Vertreter aus Astrid Lindgrens Kinderwelt. Die Nachbarn sehen das entschieden anders. Sie sammeln Geld, um ihn nach Amerika zu schicken. Doch davor warnt die Magd Lina, selbst  ein beliebtes Opfer von Michels Einfallsreichtum: „Amerika? Die hatten doch gerade erst das große Erdbeben. Da können wir ihnen nicht auch noch den Michel schicken. Eine Naturkatastrophe und Michel – das ist zuviel!“

In unserer realen Kinderwelt von heute würde Michel vielleicht zur Erziehungsberatungsstelle geschickt werden. Im günstigsten Fall. Wahrscheinlicher wäre allerdings, dass er von Schule zu Schule gereicht werden würde. Oder er müsste das Medikament Ritalin einnehmen, weil ein Arzt oder Psychologe bei ihm eine Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) festgestellt hätten.

Zwei von drei Patienten, bei denen ADHS angenommen wird, sind Jungs. Auch in anderen Problemstatistiken tauchen sie häufiger auf als Mädchen.  Richtig ist auch, dass Gewalt in den meisten Fällen männlich ist. Das bedeutet aber, dass Jungs nicht nur Täter sind, sondern vor allem auch Opfer. Sie stellen knapp zwei Drittel der Jugendlichen, die keinen Schulabschluss schaffen. 80% der Kinder, deren Eltern, genauer gesagt, deren Mütter,  eine Erziehungsberatung aufsuchen, sind männlich.

Schublade auf, Jungs rein, Schublade zu? Nein, natürlich nicht. Jungs sind so verschieden wie die 369 Holzmännchen, die Michel aus Lönneberga in seinen Strafstunden im Tischlerschuppen schnitzt. Es gibt die Skateboardfahrer und Geigenspieler,  Geschichtenschreiber und Demo-Organisierer, Fitnessbewusste und Fastfood-Liebhaber, Alpenvereinsmitglieder und PC-Freaks, den Schulhof-Rambo und den, der auch mit Mädchen kann. 

Woher kommt dennoch das schlechte Image der Jungs?

Jungs sind nicht immer brav. Es ist noch nicht lange her, da wusste jeder, wie ein „richtiger Junge“ zu sein hat: Normal war der harte Zweikampf zwischen Tom Sawyer und dem neuen Typen in der Stadt. Normal waren die Keilereien zwischen den roten und den weißen Rosen in Lindgrens „Kalle Blomquist“, normal war das Gerangel zwischen Gymnasiasten und Realschülerin in Kästners fliegendem Klassenzimmer.

„Richtige Jungen“ waren immer auch wilde Kämpfer. Aber unser Blick auf Gewalt hat sich geändert. Was früher als harmlose Hänselei unter Lausbuben galt, wird heute als brutale Prügelei eingestuft. Das ist einerseits gut, weil Kleinere und Schwächere besser geschützt sind. Es ist andererseits aber ein Problem, weil auch Spaßkämpfe und verbale Aufschneidereien, die typisch für Jungs sind, schnell als gewalttätige Handlungen eingestuft und diffamiert werden. Eine Ablehnung, auf die Jungs reagieren: viele setzen aus Trotz und Ratlosigkeit noch eins drauf – und gelten dann erst recht als erzieherischer Problemfall.

Jungs tragen ihre Aggressionen viel mehr nach außen als Mädchen. Laut dem deutschen Kinderpsychologen Wolfgang Bergmann werden vor allem sie, Opfer einer „moralisierenden Weichwasch-Pädagogik“, die schon beim kleinsten Anzeichen aggressiven Verhaltens im Kindergarten, bei Schubsen oder Rangeln, den Sesselkreis einberuft. „Ein Kind muss jedoch seine körperliche Kraft kennen lernen, um Mitgefühl mit anderen entwickeln zu können“, meint er. Aggression bedeutet, dass der Körper etwas tun will. Aggression ist erst mal positive Lebensenergie, ein wichtiges Grundgefühl, das zum Mensch-Sein dazu gehört. Das aber kann nur über den Weg gehen, etwas anzupacken, Dinge zu versuchen und Grenzen auszutesten. Jungs müssen das rauslassen, mit Händen und Füßen, sonst explodieren sie.  Möglichkeiten gibt es genug: Bewegungsspiele, Wettspiele – oder einfach mal raufen lassen.

Eine nicht zu leugnende Tatsache ist, dass der pädagogische Bereich von Frauen überschwemmt ist und diese nicht unbedingt einen positiven  Zugang zu Aggression haben. Auch Jan-Uwe Rogge weiß, dass Jungs Schwierigkeiten mit den sogenannten „pädagogischen Elfen“ haben, „denen man schon aus der Ferne ihre Bachblüten ansieht“. Nur: mit immer gleichbleibend ruhig-freundlich-gedämpfter Stimme und einer Erziehung, die vorsieht, alles bis zur Erschöpfung auszudiskutieren, erreicht man die Jungs nicht. Für Jungs ist wichtig zu wissen: Wer ist der Boss? Wie lauten die Regeln? Und werden sie eingehalten?

Eltern sind sich oft sehr unsicher, wie sie mit den Aggressionen ihrer Söhne umgehen sollen. Es gilt den produktiven Teil der Aggression zu fördern und nicht generell auszublenden. Fördern kann man durch Kunst, durch Sport, durch Musik. Durch alles, wo man sich im guten Sinn „ausdrücken kann“. Schlagzeug kann etwas hoch Aggressives sein. Audrucksmalen ist eine Form von gelebter Aggression. Sport heißt Körper empfinden. Wir haben aber auch das zerstörerische Element der Aggression. Deshalb brauchen wir Erziehung zum Umgang damit. Wir wollen unsere Kinder immer klüger machen und übersehen, dass sie nicht mehr geerdet sind. Immer mehr Kindergartenkinder erfahren in diesem Alter zwar intensive Fremdsprachenförderung, können aber nicht mehr klettern, rückwärts gehen oder einen Purzelbaum schlagen, weil ihnen das Bodenständige fehlt.

Dass Jungs so bewegungsfreudig und oft auch angriffslustig sind, daran ist das männliche Hormon Testosteron nicht ganz unschuldig. Mütter von Jungs wissen, dass die Bande sehr schnell unausstehlich wird, wenn sie nicht ausreichend Gelegenheit zum Toben haben. Kann Ihr Junior sich momentan zu nichts aufraffen, holen Sie sich einen Mann ins Boot. Am besten den Vater oder sonst einen männlichen Erwachsenen. Jungen lieben „Männeraktionen“, wie zelten, Drachen steigen lassen,  Fußball spielen, Rad fahren, angeln.....

Sie mögen es auch, wenn Väter (liebevoll) mit ihnen raufen. Dabei lernen sie ganz nebenbei, wie man seine Körperlichkeit auslebt, ohne andere zu verletzen.

Die Erfahrung der eigenen Körperlichkeit ist eines der wichtigsten Elemente um zu zeigen, wie man sich austoben und gleichzeitig auch Regeln einhalten kann.  Denn Aggressionen können durch Rituale begrenzt werden. Wie beim Boxen oder Judo. Es geht nicht um die Vernichtung, es geht darum, miteinander im Kampf die Regeln einzuhalten. Hinter der Kraftmeierei von Jungen versteckt sich auch der Wunsch nach Nähe. Raufen ist auch eine Form von Körperkontakt! Sogar wilde Kerle brauchen hin und wieder wohl dosierte Nähe. Allerdings meist nicht in der Form und zu der Zeit, wie wir Mütter uns das vorstellen. Umarmen kann man den Schulanfänger auch noch zu Hause und nicht unmittelbar vor dem Schulgebäude. Und wenn beim Kindergeburtstag vor dem versammelten Freundeskreis sein Knie blutet, dann bringen Sie ihn zum Trösten einfach ins Badezimmer. In ganz besonderen Momenten,  wenn die Müdigkeit die Coolness verdrängt hat, dürfen Sie sogar an der Bettkante Platz nehmen und dem kleinen Helden über’s Haar streichen.

Jungs sind eben anders als Mädchen. Und diese Unterschiedlichkeit  wird ihnen oft zum Vorwurf gemacht.  Wenn Mädchen Angst haben, machen sie sich im Allgemeinen eher klein und verhalten sich still. Jungs laufen umher und tendieren dazu, möglichst viel Lärm zu verursachen und eine große Klappe zu führen, um so die Unsicherheit zu überspielen.

Schon im Kindergarten werden Mädchen deshalb von Erzieherinnen als „pflegeleichter“ empfunden. Später in der Schule sehen das die meisten Lehrkräfte genauso – Lehrkräfte, die in der überwiegenden Mehrheit weiblich sind. Männliche Schüler gelten als zu laut, zu unaufmerksam, zu schlampig. Die Aufmerksamkeit, die Jungs in der Schule bekommen, ist häufig negativer Art. In der Volks- und Hauptschule übersteigt die Zahl der Lehrerinnen die der männlichen Kollegen deutlich. Ein Missverhältnis, das Folgen hat für den Blick auf Jungs: Vielen Lehrerinnen sind ihre Schüler völlig fremd.

Ein Sozialpädagoge, der mit auffälligen Jungen arbeitet und Lehrerfortbildungen veranstaltet, erzählt: „Wenn ich Lehrerinnen frage, was Jungen gut können, sitzen alle stumm da, weil ihnen keine Antwort einfällt.

Eine Episode, die auch für sich spricht,  findet sich in dem Kinderbuch "Als Klein-Ida auch mal Unfug machen wollte", ebenfalls von der schwedischen Erfolgs-Autorin Astrid Lindgren. Klein-Ida fand es im Tischlerschuppen, wo ihr Bruder Michel immer eingesperrt wurde, wenn er etwas ausgefressen hatte, durchaus gemütlich.  Gerne wäre sie auch mal dorthin verbannt worden. Um das zu erreichen, hätte sie allerdings zuerst Unfug machen müssen. "Ich werd' mir schon was ausdenken", sagte sie zu Michel. "Unfug denkt man sich nicht aus", erwiderte der, "Unfug wird's von ganz allein. Aber dass es Unfug war, weiß man erst hinterher." 

Michel’s Erklärung zeigt, dass Jungs in den wenigsten Fällen boshaft oder hinterhältig agieren. Sie handeln weder vorsätzlich grob, noch wollen sie jemanden bewusst schaden. Gedankenlosigkeit und Leichtsinn, das ja. Und natürlich müssen sie auch lernen, was ihr Tun und Lassen für Folgen haben kann. Aber sie müssen auch ausleben dürfen, was sie sind und sollten nicht permanent durch unsere erwachsenen Erwartungen eingeschränkt werden. Und sie sollten wegen ihrer Bewegungsfreude, ihrer Körperlichkeit nicht dauernd kritisiert werden.

Sie haben es heute nicht leicht, die kleinen und die großen Kerle. Deshalb sollte unser aller Blick auf die Nachwuchs-Männer wieder ein bisschen liebevoller werden. Eine Anregung: Stellen Sie Ihre gelebte Rolle als Mann oder Frau auch mal in Frage. Beobachten Sie Ihren eigenen Umgang mit Jungs kritisch: Was leben Sie vor? Was erwarten Sie? Wie begegnen Sie den Jungs um sich herum? Jungs brauchen alle Möglichkeiten.  Sie haben ein großes Entwicklungspotenzial und wenn wir an sie glauben, überraschen sie uns immer wieder positiv. Wie Michel von Lönneberga, der es später sogar bis zum Gemeindepräsidenten von Smaland gebracht haben soll!

Ingrid Holzmüller, Leiterin des Ehe- und Familienzentrums in Feldkirch, Ehe-, Familien- und Lebensberaterin, Sexualpädagogin, Gewaltpädagogin und Gewaltberaterin, Mutter von zwei Töchtern und einem Sohn