Frau B. kommt in die Beratung und schildert Probleme mit ihrer 15-jährigen Tochter Andrea. Seit einigen Wochen ziehe sie sich immer mehr zurück und reagiere mit starker Ablehnung auf Mutter und Vater.

Frau B. beschreibt ihre Familie als sehr glücklich und mit großem Zusammenhalt untereinander. Die Beziehungen in der Familie beschreibt die Klientin als sehr liebevoll und herzlich. Die Klientin ist seit knapp 15 Jahren mit ihrem Mann zusammen und sie haben drei Kinder. Neben Andrea gibt es noch einen 12-jährigen Bruder und eine 10-jährige Schwester. Andrea ist ein sehr offenes und herzliches Mädchen mit guten Noten in der Schule und einem größeren Freundeskreis. In den letzten Wochen haben sich die Schulleistungen jedoch deutlich verschlechtert, und Andrea zieht sich immer mehr zurück, reagiert sogar aggressiv auf Annäherungsversuche durch ihre Eltern.

Gefragt nach möglichen Gründen für das neu zu beobachtende Verhalten bei Andrea erzählt Frau B., dass Andrea vor einigen Wochen zufällig durch eine Bekannte der Mutter erfahren hat, dass ihr Vater nicht ihr leiblicher Vater ist, was Andrea bis zu diesem Zeitpunkt nicht wusste.

Die Klientin erzählt, dass sie zum Zeitpunkt des Kennenlernens ihres Mannes bereits von einem anderen Mann  schwanger gewesen sei. Ihr Ehemann wusste von der Schwangerschaft und wollte das Kind wie sein eigenes Kind annehmen und aufziehen. Zum leiblichen Vater von Andrea bestehe keinerlei Kontakt. Nur sehr wenige Personen im Bekannten- und Freundeskreis wussten über diese Situation Bescheid und es wurde im Laufe der Jahre nie wirklich darüber gesprochen. Zwischen dem Elternpaar gab es die Vereinbarung, Andrea nichts über die Vaterschaft zu erzählen, bis sich der „richtige Zeitpunkt“ ergibt.

Zunächst war Andrea in den Augen der Klientin zu jung, dann kamen die Geschwister und sie hatte Angst, dass Andrea sich der Familie nicht mehr zugehörig fühlen könnte. Über die Jahre hat sich der „richtige Zeitpunkt“ nie ergeben. Die Eltern glaubten, Andrea die Wahrheit nicht zumuten zu können – bis das Mädchen die Informationen durch einen Zufall von einer anderen Person erfahren hat – in einem Alter, in dem das Thema der Identitätsfindung im Vordergrund steht.

In vielen Fällen stellt sich bei nicht-leiblicher Elternschaft für die Erwachsenen die Frage, wann sie den Kindern sagen sollen, dass es einen anderen biologischen Elternteil gibt.

Die Eltern sehen das Kind als zu jung an, um zu verstehen. Dann kommen Geschwister, und die Eltern möchten dem Kind nicht das Gefühl der Zugehörigkeit nehmen. Bis die Eltern die Wahrheit so lange verschwiegen haben, dass ein Gespräch darüber immer noch schwieriger oder gar unmöglich erscheint.

Neben der Sorge über die Auswirkung der Wahrheit auf das Kind, erleben Eltern auch eigene Ängste. Sie fürchten um die Beziehung zum Kind, genauso wie um den Verlust der Erziehungsberechtigung des nicht-leiblichen Elternteils in den Augen des Kindes. Auch eine Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit wird wieder wichtig.

Eine Beratung gibt den Eltern die Möglichkeit, sich mit den Fragen nach den verschiedenen Konsequenzen auseinanderzusetzen und gemeinsam Vorgehensweisen zu besprechen. Das Thema ist nicht mit einem Gespräch zwischen Eltern und Kind geklärt, sondern erfordert immer wieder Auseinandersetzung und Antworten. Es ist ein stetiger Prozess, in der die Beratung die Eltern Schritt für Schritt begleiten kann.

Dies gibt den Eltern Vertrauen und damit der Familie die Chance, das Thema nicht verheimlichen zu müssen, sondern als das zu sehen was es ist: eine Realität, die die Familie zu der macht, die sie ist.

Mag. Dr. Veronika Burtscher-Kiene
Ehe- und Familienzentrum
Beratungsstelle Feldkirch