Eine schwierige Zeit, nicht nur für die Tochter ..... Aus der Praxis: Frau S. (eine alleinerziehende Mutter mit türkischen Wurzeln) kommt in unsere Beratungsstelle. Beim Erstgespräch wirkt sie niedergeschlagen und deprimiert. Ihre neunzehnjährigen Tochter bereite ihr nichts als Sorgen. Ayse, (alle Namen wurden geändert) würde sie im Haushalt nicht unterstützen, sie benutze schlimmste Schimpfworte und sie sei sogar gewalttätig. Sie hätten sich schon des öfteren geschlagen. In der Familie lebe ja noch ihre fünfjährige Tochter Erem, und für diese sei Ayse keinerlei Vorbild. Ihr Ziel sei ein harmonisches, friedliches Zusammenleben. Das müsse Ayse doch einsehen.

Frau S. hat sich vor 4 Jahren von ihrem gewalttätigen Mann getrennt und sie lebt seither vom Einkommen als Reinemachefrau und dem geringen Unterhalt für die Kinder. Sie komme finanziell knapp über die Runden.

In unseren gemeinsamen Gesprächen beklagt die Mutter sehr, dass Ayse keine Verantwortung übernehme, dass sie zu Hause zu wenig helfe, nicht auf die kleine Schwester aufpasse und zu wenig für die Schule lerne. Außerdem habe sie kein Verständnis für ihre soziale Lage. Die Tochter würde nur fordern und fordern.

Ayse dagegen erklärt, dass sie ohnehin viel helfe, aber sie wolle es sich selber einteilen und wolle nicht jederzeit „hab acht“ stehen müssen. Als Neunzehnjährige könne sie es sich durchaus selbständig einteilen, wann und wie viel sie lerne und sie wolle sich nicht mehr in allen Bereichen bevormunden lassen. Die Mutter könne nicht selbständig leben, immer brauche sie jemanden um zu jammern, sie solle sie endlich in Ruhe lassen.

Die Mutter, selbst erzogen in der Wertvorstellung, dass Eltern respektiert werden, dass man sich ihnen unterordnen soll und vor allem, dass man nicht widersprechen darf, fühlt sich nicht verstanden und zweifelt sehr an ihrer eigenen Erziehungsmethode.

Die Tochter fühlt sich nicht akzeptiert, beklagt, dass sie wie eine „Dienerin“ gehorchen sollte und dass ihre Bedürfnisse nicht gesehen werden.

Es kommt zu Streit bis hin zu tätlichen Auseinandersetzungen.

Folgenden Fragen gehen wir nach: Wann und was kann die Tochter frei entscheiden? Wann kann man ihr zutrauen, sich um ihre eigenen Lebensanforderungen selbständig zu kümmern? Ist es selbständig, wenn sie genau so tut, wie die Mutter es wünscht, oder ist es eher selbständig, wenn sie ihren eigene Ideen folgt? Was darf man als Mutter erwarten? Müssen Kinder die Probleme der Eltern verstehen? Haben beide die gleichen Wertvorstellungen? Von welchen Ideen muss man sich verabschieden?

Die Tochter hat ganz andere Vorstellungen von „gutem“ Zusammenleben wie die Mutter. Auch sind die Anforderungen im Leben, denen sie sich außerhalb der Familie stellen müssen, sehr unterschiedlich und es besteht der große Wunsch auf beiden Seiten, dass die eigenen Be- und Überlastungen endlich gesehen werden.

In unseren Beratungsstunden geht es vor allem um den Respekt vor den jeweiligen Schwierigkeiten, ohne gleich zu beurteilen, was für die andere „gut und richtig“ ist. Und vor allem geht es um Akzeptanz von Freiräumen. Es scheint eine große Herausforderung für die Mutter zu sein, die Ansichten der Tochter zu respektieren. Hier spielt die Angst der Mutter eine große Rolle, ob die Tochter wohl den Erwartungen von Verwandten, Freunden und Bekannten entspricht und ob sie dem Leben überhaupt gewachsen ist.

Es werden Regeln des Zusammenlebens ausgehandelt, an die sich beide halten sollen. Die Verantwortung in schulischen Belangen wird in vollem Ausmaß an die Tochter übertragen (eine große Herausforderung für die Mutter). Mit den Lehrpersonen trifft man die Vereinbarung, dass sie sich an die volljährige Tochter wenden, wenn es Schwierigkeiten gibt, nicht an die Mutter. Die Mutter achtet vermehrt auf ihre eigenen Grenzen und nimmt sich auch einmal wöchentlich „familienfrei“. Es werden die Arbeiten, welche die Tochter zu leisten hat, genau besprochen, und es wird ein genaues Vorgehen  ausgehandelt, bis wann diese erledigt sein sollen. Bei zusätzlichen Aufgaben, wie Babysitten wird Frau S. früh genug bei der Tochter anfragen, damit Ayse sich darauf einstellen kann und evt. andere Vorhaben verschiebt. Auch wird besprochen, dass die Tochter durchaus „fordern“ darf (zum Beispiel mehr Taschengeld), die Mutter kann und soll aber auch nein sagen, wenn sie es für richtig hält.

Beide werden angehalten, ihr eigenes Verhalten zu beobachten und auf gegenseitige Kränkungen zu überprüfen. Bei emotionalen Konflikten soll ein „Stop“ des Gegenübers akzeptiert werden und erst am nächsten Tag kann weiterverhandelt werden.

Mutter und Tochter wirken jetzt gelassener, sie haben jetzt öfters konstruktive Gespräche, sie hören sich auch gegenseitig zu. Verbale Eskalationen werden seltener und diese haben nicht mehr die tragische Bedeutung wie vorher. Beide sind sich der Zuneigung und Liebe trotz solcher Meinungsverschiedenheiten mehr und mehr bewusst.

Zu Handgreiflichkeiten ist es noch einmal gekommen. Daraus haben sie jedoch gelernt, die emotionalen Grenzen eher zu respektieren.

In ihren Gesprächen geht es zunehmend nicht nur um Alltagskonflikte, sondern auch öfters  darum, wie in den Herkunftsfamilien der Mutter und des Vaters mit Beziehungsproblemen umgegangen wird. Die Tochter erkennt zunehmend den Werdegang, den ihre Mutter gemacht hat. Sie sieht die Kraft, mit der sich ihre Mutter gegen viele Hindernisse von ihrem gewalttätigen Mann getrennt hat. Sie beschreibt auch ihre Gefühle, die sie durch den Verlust der gesamten väterlichen Familie erlitten hat, denn die Familienmitglieder aus dieser Linie haben den Kontakt zu ihnen abgebrochen.

Im Austausch zwischen Mutter und Tochter geht es jetzt häufig über „Richtig und Falsch“, über Lebensziele und über Zukunftswünsche. Sie debattieren nicht nur über die Probleme zwischen den Generationen, sondern auch über den Umgang mit schwierigen Beziehungen und Lebenssituationen in den verschiedenen Kulturen.

Diese neue Form der Kommunikation finden beide anregend und spannend. Dadurch hätten sie eine neue Ebene der Beziehung gefunden.

Mir erscheint, dies ist ein guter Weg zur Entwicklung einer eigenen Identität, nämlich eine eigene Persönlichkeit zu sein: sowohl Türkin als auch Österreicherin.

ELISABETH HUBER, DORNBIRN, EHE- UND FAMILIENZENTRUM, FELDKIRCH