Sich ganz auf den anderen einzulassen birgt auch ein Risiko

Aus der Praxis: Ein seit fünf Jahren verheiratetes Paar kommt in der Beratung: Sie wollen an ihrer Kommunikation arbeiten, es komme oft zu Konflikten, die dann nicht besprochen würden; irgendwann sei der Konflikt dann einfach vorbei – irgendwie. Er will nicht darüber reden, weil sich am Anlassfall jetzt sowieso nichts mehr ändern lässt.
Im Laufe des Gespräches frage ich nach, welche Träume und Sehnsüchte es im Leben des Mannes denn gäbe und ob einer dieser Träume vielleicht schon ausgeträumt sei ... Der Ehemann erinnert sich an das Ende seiner Schulzeit, als er versuchte, seinen Traumberuf zu erlernen, und er erzählt von den Umständen, die das dann verhindert haben. Und während er erzählt, kommen ihm die Tränen – dann ist es ganz still im Raum. „Haben Sie das gewusst?“, frage ich die Ehefrau, die sich ebenfalls ein paar Tränen aus dem Gesicht wischt. „Nein“, sagt sie, „aber jetzt wird mir einiges klar.“

Wenn Paare in die Beratung kommen, sind sie meist schon seit einiger Zeit zusammen und glauben, einander in- und auswendig zu kennen – zu wissen, was der andere denkt oder was sein Augenrollen bedeutet.

In diesem „sich so gut kennen“, „genau zu wissen“, liegen die meisten Missverständnisse. Man erzählt dem Partner/der Partnerin gar nicht mehr, was man denkt und fühlt, er oder sie glaubt ja ohnehin zu wissen, was los ist. Die Folge: Man resigniert, gibt auf und fühlt sich nicht ernst genommen. Dieses sich nicht ernst genommen, sich nicht gesehen und erkannt fühlen, schmerzt besonders, denn die Person, von der man erwartet, erkannt, geliebt und verstanden zu werden, missversteht oder versucht erst gar nicht (mehr), hinzuschauen und zu verstehen.

Einmal ehrlich: Wann habe ich zuletzt meiner Frau/meinem Mann zugehört und mir nicht selbst die Antwort gegeben?
Wann habe ich das letzte Mal versucht, den anderen zu verstehen?
Wann habe ich das letzte Mal den anderen bewusst angesehen, mit Körper, Geist und Seele?
Warum vergesse ich immer öfter nachzufragen, hinzuschauen und zu verstehen?
Habe ich in der Vergangenheit auf Fragen keine Antworten bekommen und mir die Inhalte selbst zusammengereimt? Oder haben die Fragen oder die Antworten zu Konflikten geführt? Müsste ich von mir selbst etwas preisgeben?

Risiko. Sich dem anderen aufrichtig zuzuwenden ist immer eine intensive Begegnung mit dieser Person, aber auch eine intensive Begegnung mit sich selbst. Das birgt ein gewisses Risiko: Vielleicht sind wir uns gar nicht so ähnlich, vielleicht haben wir doch unterschiedliche Vorstellungen von unserem gemeinsamen Leben, unseren Zielen? Vielleicht ist er/sie gar nicht die, für die ich ihn/sie gehalten habe?

Zu wenig Mut. Manchmal haben wir im Alltag für diese Fragen einfach zu wenig Zeit.
Manchmal haben wir dafür nicht genug Mut, weil wir fürchten, etwas verändern zu müssen, wenn es auf unsere Fragen überraschende Antworten gibt, oder wir wissen nicht, wie wir so viel Kontakt und Nähe verarbeiten sollen, und manchmal sind wir einfach müde und wissen keinen besseren Weg.
Aber manchmal fühlen wir uns frisch und voller Tatendrang, und es ist der ideale Tag, um den anderen anzusehen, ihm zuzuhören und ihn zu erleben, denn nichts öffnet uns so die Augen wie der Mut, zu lieben.

Bei Fragen und Problemen wenden Sie sich an: Astrid Wolfgang, Partner-, Ehe-, Familien- und Lebensberatung, Herrengasse 4, 6800 Feldkirch