Frau K., 30 Jahre, kommt in die Beratungsstelle. Sie ist seit 8 Jahren verheiratet, hat eine 3-jährige Tochter und einen 6-jährigen Sohn, der ihr große Sorgen macht. Ihr Mann ist Schichtarbeiter und überlässt die Erziehung der Kinder weitgehend seiner Frau.

Es war einmal ein einbeiniger Drache, der sagte zu dem Tausendfüßler: „Wie dirigierst du bloß alle diese Beine? Ich werde gerade so mit einem fertig.“
„Die Wahrheit ist“, antwortete der Tausendfüßler, „ich dirigiere sie überhaupt nicht.“ (Anthony de Mello, Eine Minute Weisheit)
 
Frau K. schildert ihren Sohn Sebastian als einen lebendigen Jungen, der zu Wutanfällen neigt. Bereits mit zwei Jahren gab es erste Schwierigkeiten, da Sebastian in der Spielgruppe andere Kinder gebissen hat.
Zu Hause zeigt Sebastian aggressives Verhalten. Er wird schnell wütend, wenn etwas nicht nach seinem Willen verläuft, kratzt und schlägt die jüngere Schwester und auch die Mutter. Auf die Frage, welche Konsequenzen Sebastian in einer solchen Situation von der Mutter erlebt, antwortet sie ehrlich – wenn auch beschämt – dass sie ihn auf das Gesäß schlägt und ihn dann im Zimmer einsperrt, bis er sich beruhigt hat.
 
Immer wieder kommen Eltern in die Beratungsstelle und berichten, dass sie Probleme mit ihren Kindern haben. Sie suchen Hilfe und Anregungen, wie sie besser mit Streit-Situationen umgehen können. Die Kinder versuchen ihre Wünsche mit ihren Mitteln, die je nach Alter des Kindes verschieden sind, durchzusetzen. Die Eltern versuchen Grenzen zu setzen und scheitern dabei oft am Durchsetzungswillen ihrer Sprösslinge. Dadurch kommt es zum Machtkampf, bei dem es nur noch darum geht, wer Sieger bleibt.
 
Die Erziehung eines Kindes ist eine große aber sehr lohnende Aufgabe. Jede Art von Gewalt darf dabei keinen Platz haben, da sie immer die Beziehung und das Vertrauen des Kindes zu seinen Eltern zerstört. Geschlagene Kinder lernen in schwierigen Situationen ihre eigenen Wünsche durch Gewalt durchzusetzen. Ebenso lernen aber schon kleine Kinder die Wünsche anderer wahrzunehmen, wenn ihnen das Gefühl vermittelt wird, dass auch ihre Wünsche zählen.
 
Frau K. erwartet sich in ihrer Beratungsstunde eine konkrete Hilfe für den Umgang mit ihrem Sohn Sebastian. Für sie stellt die Erziehung tatsächlich eine tägliche Herausforderung dar. Sebastian scheint ein lebhaftes Kind zu sein, das seine Grenzen ständig auslotet und eigene Wünsche mit allen Mitteln durchsetzen will. Ganz konkret kann es in solchen Situationen für Frau K. eine Hilfe sein, den „Konfliktherd“ für eine gewisse Zeit zu verlassen und selbst in ein anderes Zimmer zu gehen bis sich die eigene Verärgerung gelegt hat. Der 6-jährige Sebastian erfährt auf diese Weise, dass sich auch die Mutter beruhigen muss, um dann mit ihm gemeinsam eine Lösung finden zu können. Wahrscheinlich wird Frau K. nicht beim ersten Versuch erfolgreich sein. Wenn aber Sebastian spürt, wie wichtig es seiner Mutter ist, auch seine Wünsche zu beachten, können neue Lösungen entstehen.
 
Als Eltern sind wir oft nicht ganz sicher, ob wir im Umgang mit unseren Kindern das Richtige tun. Vielleicht hilft uns dann der Rat des Tausendfüßlers und wir verzichten ab und zu aufs „Dirigieren“.
 
 
                                   
                                                                        Mag. Dr. Veronika Burtscher-Kiene