Aus der Praxis: Birgit, 38 Jahre, ist alleinerziehende Mutter von zwei Kindern. Während zur achtjährigen Tochter Hannah ein guter Draht besteht, fürchtet Birgit, dass ihr der Kontakt zum 16-jährigen Julian gänzlich abhandenkommt.
Julian wird, so wie es derzeit aussieht, dieses Schuljahr nicht positiv abschließen. Was Birgit aber am meisten belastet, ist der Umstand, dass Julian Gesprächen mit ihr ausweicht. Vom leiblichen Vater gibt es kaum Unterstützung, dafür jede Menge Vorwürfe. Er sieht Julians Schulmisere als das Ergebnis von Birgits lascher Erziehung.

Jugendliche brauchen von ihren Eltern keine Fragen, sondern Aussagen. So kann eine gute Beziehung entstehen.

In der Beratung zeigt sich, dass Birgit Jahre nach der Trennung immer noch den Wunsch verspürt, ihrem Ex-Mann Martin zu beweisen, dass sie den Alltag mit den Kindern im Griff hat. Dazu gehören auch akzeptable schulische Leistungen.

Ex-Mann oder Sohn. Birgit fühlt sich innerlich zerrissen. Sie spürt, dass es ihrem Sohn nicht gut geht, und möchte dem nachgehen.
Andererseits dient Julian auch als eine Art Vorzeigeprojekt gegenüber Martin. „Schau her, ich schaffe das mit den Kindern, obwohl du mir immer das Gegenteil prophezeit hast.“ Nun droht das Projekt zu kippen und Birgit fürchtet sich vor Martins abwertenden Äußerungen. Sie weiß aber auch, dass sich Julian immer mehr zurückziehen wird, wenn sie den Druck auf ihn erhöht. Was ist ihr wichtiger? Sich dem Ex-Mann gegenüber zu beweisen oder die Beziehung zu ihrem Sohn?

Keine Antworten. Birgit entscheidet sich für Julian. Sie möchte von ihm wissen, wie es schulisch weitergehen soll. Was sind seine Vorstellungen? Zu den Nachprüfungen antreten, das Schuljahr wiederholen, eine Lehre beginnen? Julian schweigt. „Warum redet er nicht mit mir?“, will Birgit in der nächsten Stunde wissen. „Ich stelle ihm dauernd Fragen und er sagt nur: Weiß ich nicht.“
Es gibt traditionellerweise nicht viele Dialoge zwischen Eltern und Kindern. Wenn Eltern Fragen stellen („Wie war es in der Schule?“, „Hast du deine Hausaufgaben schon erledigt?“, „Wann räumst du dein Zimmer auf?“, „Was magst du heute essen?“), haben sie das Gefühl, bereits in Kontakt zu sein. Kinder bis zum siebten oder achten Lebensjahr beantworten diese Fragen mehr oder weniger noch bereitwillig. Jugendliche wollen ebenfalls Kontakt haben, aber keine Fragen mehr beantworten. Denn Fragen beantworten heißt, man macht sich verwundbar. Fragen stellen heißt, man kann sich hinter den Fragen verstecken und ist nicht verwundbar. Dieses Ungleichgewicht spüren junge Menschen.

Neue Beziehung. „Wenn ich keine Fragen stellen darf, dann kriege ich ja überhaupt keine Informationen mehr. Was soll ich dann machen?“, begehrt Birgit auf. Die Antwort ist: Dann muss man reden. Aussagen statt Fragen. Und wenn man etwas aussagt, etwas formuliert, dann hört man automatisch auf, Mutter zu spielen, dann redet man über seine Gedanken und Erlebnisse. Was habe ich heute erlebt? Habe ich etwas Interessantes gelesen, gehört? Einen guten oder schlechten Tag gehabt? Nahezu alle Eltern, die Fragen nicht mehr als Kontaktversuch verwenden, sondern nur noch dann, wenn es wirklich um Informationseinholung geht, berichten, wie sehr sich die Beziehung zu den Jugendlichen gewandelt hat. Voraussetzung ist jedoch ein offenes und aufrichtiges Interesse an der Lebenswelt des Jugendlichen.

 

Ingrid Holzmüller, Leiterin des Ehe- und Familienzentrums, Herrengasse 4, 6800 Feldkirch, Telefon 05522/74139, ingrid.holzmueller@kath-kirche-vorarlberg.at