Aus der Praxis: Carla hat sich von Paul, Vater ihrer gemeinsamen Tochter Katrin, getrennt, als diese zwei Jahre alt war.
Um Katrin den Vater zu erhalten, hat es sie auch nicht gestört, dass Paul immer noch seinen Wohnungsschlüssel hatte, mit dem er nach Belieben kommen und gehen konnte. Jetzt, nach drei Jahren, fühlt sich Carla wieder bereit, eine neue Beziehung einzugehen. Ihre berechtigten Bedenken sind, dass dieses Arrangement in einer neuen Partnerschaft wohl kaum mehr funktionieren könne, wenn ihr Ex-Freund jederzeit Zugang zur Wohnung hätte.
Und wie würde es Katrin aufnehmen, die ihren Papa heiß und innig liebt?

Wie gehen Elternteile nach einer Trennung so miteinander um, dass neue Lebensformen für beide Partner möglich sind und die Bedürfnisse der Kinder gewahrt bleiben? – Nein-Sagen lernen und Grenzen ziehen ermöglichen Schritte in die neue Zukunft.

Carla wünscht sich eine andere Zukunft und will dabei niemanden verletzen. Sie will ihrer Tochter den Vater nicht wegnehmen, aber sie ist sich auch nicht mehr so sicher, ob es Katrin gut tut, dass ihre Eltern so viel zusammen sind, obwohl sie kein Paar mehr sind. Das bisherige Handeln von den Dreien war geprägt von Rücksichtnahme. Aber die Gewohnheiten, die sich aus dieser Rücksichtsnahme bei ihnen eingebürgert haben, sind in dem Moment, in dem sich ihre Situation ändert, nicht mehr zweckmäßig.

Im Kompromiss-Paradies. Es ist sinnvoll, die Situation zu verändern, bevor Carla jemanden kennenlernt. Dass Vater und Tochter über diese neue Abmachung vorerst nicht erbaut sein werden, muss Carla lernen auszuhalten. Sollte sie früher oder später einen Mann finden, mit dem sie ihr Leben teilen möchte, dann wird das Kind eine Erfahrung machen, die ihr sonst vorenthalten würde. Nämlich wie es ist, wenn ein Mann und eine Frau eine Beziehung aufbauen und gestalten. Im Augenblick profitiert das Kind noch vom Kompromiss-Paradies. Langfristig gesehen gibt es jedoch kein Kind, welches dafür dankbar ist, wenn die Mutter auf ihr eigenes Leben verzichtet.

Nein-Sagen lernen. Das leuchtet Carla zwar ein, allerdings will sie auf keinen Fall der „Buhmann“ sein. Es dauert einige Zeit, bis zwei Dinge bei ihr angekommen sind:
Erstens, dass sie ihrer Tochter durch ihr Vorleben, wie man zu einer Überzeugung trotz Widerstand Dritter stehen kann, ein Geschenk macht. Von Kindern erwarten die Eltern ebenfalls, dass sie später einmal Nein sagen: zu falschen Freunden, Drogen, Alkohol usw. Wie sollen sie das aber lernen, wenn Mutter oder Vater aus falscher Rücksichtnahme nicht zu ihrer Überzeugung stehen? Weiters wird Carla bewusst, dass es günstiger ist, jetzt schon klare Verhältnisse zu schaffen, bevor ein neuer Partner in Sicht ist.
Ändert sie die Situation erst mit einem neuen Mann, so sind die Startbedingungen für die neue Beziehung ungleich schwieriger. Zudem entwickeln sich Kinder dann am besten, wenn sie sehen, dass Mutter und Vater auch auf ihr eigenes Leben achten. Das „Nein“ gehört zur Liebe. Unliebsame Entscheidungen zu treffen, kann man als lästige Bürde empfinden. Oder man kann es als Chance sehen.

 

Ingrid Holzmüller
Leiterin Ehe- und Familienzentrum
Telefon 05522/74139