Der öffentliche Raum – was ist das eigentlich? Wer nutzt ihn – wann, wo, wozu? Ein geführter Spaziergang durch Feldkirch gab gestern Antworten – und warf neue Fragen auf.

Wem die Stadt gehört? Nun, an diesem Tag, in diesem Moment, an diesem Punkt: uns. Eine Gruppe von vielleicht siebzig, achtzig Menschen braucht ihren Platz – vor allem dort, wo nicht viel davon da ist, wie in dem schmalen Durchgang zwischen Neustadt und Entenbachgasse. Wir zwingen andere, abzusteigen, abzuwarten, auszuweichen. Und beanspruchen damit im Kleinen, was auch im Großen gilt – das Recht des Stärkeren.

Für solche Situationen und Interessenkonflikte zu sensibilisieren ist am frühen Dienstagabend das Ziel eines Stadtrundgangs der etwas anderen Art. „Wem gehört die Stadt?“ haben Caritas Vorarlberg und Kaplan Bonetti Sozialwerke diese Aktion genannt und Eva Lingg, wissenschaftliche Mitarbeiterin und Dozentin für Wohnen und Nachbarschaften am Institut für Soziale Arbeit der FHS St. Gallen, als „Stadtführerin“ gewonnen.

Feldkirch: eine Idylle...

Vom Treffpunkt am Bahnhof dirigiert sie uns zunächst quer durch die Altstadt ins Naherholungsgebiet Reichenfeld, wo Natalie Wojtech von der Stadt Feldkirch Impulse zu den Wohn- und Lebensbedingungen in der Innenstadt gibt. Dann ist es an uns, das Areal auf eigene Faust zu erkunden, das 1993 nur unter der Auflage, als Naherholungsgebiet erhalten zu bleiben, von den Jesuiten an die Stadt Feldkirch verkauft wurde. Zu sehen gibt es viel: Eine Gruppe Buben, die sich auf dem Bolzplatz austobt, zwei Frauen, die auf einer Bank im Schatten sitzen und sich unterhalten, und ein bisschen weiter weg: Junge Kerle, die mit dem Aufbau fürs Poolbar-Festival beschäftigt sind. Schön hier.

... oder?

Erste Risse bekommt diese Kleinstadt-im-Sommer-Idylle, als wir kurze Zeit später auf dem Marktplatz stehen und uns Jurist und Caritas-Mitarbeiter Peter Wieser von den juristischen Rahmenbedingungen für solche Orte erzählt. „Den“ öffentlichen Raum gibt es laut Gesetzesbuch nämlich gar nicht – wohl aber Verordnungen, die ihn betreffen. In der Straßenverkehrsordnung oder im  Sicherheitspolizeigesetz ist von Orten die Rede, „die von einem nicht von vornherein bestimmten Personenkreis betreten werden können“. Und da ist „alles erlaubt, was nicht verboten ist“. Eine praktische Definition – denn so muss kein Gesetz geändert werden, wenn sich das Verständnis dessen, was „öffentliches Ärgernis“ erregt, im Laufe der Zeit ändert. „Noch in den 1960er Jahren wäre ein Kuss in der Öffentlichkeit so ein Ärgernis gewesen“, weiß Wieser – „heute ist das völlig normal.“

Das Recht des Stärkeren

Aber: Einige Gesetzesänderungen gab es doch – vor allem in der jüngeren Vergangenheit und so genannte „Randständige“ betreffend – zum Beispiel Bettlerinnen und Bettler. Deren Radius ist ordentlich zusammengeschrumpft: In Bludenz ist das „stille Betteln“ ganz verboten, in Feldkirch seit März 2016 nur erlaubt, wo sich im unmittelbaren Umkreis (5 Meter) kein Geschäfts- oder Lokaleingang befindet, keine Bushaltestelle, kein Parkticketautomat, keine Fußgänger-Unterführung, keine Kirche. „Darüber, was erlaubt ist und was nicht, entscheiden am Ende die Mächtigen“, sagt Wieser. Und Macht ist auch hier meist: Geld.

Der Blick, den man beim anschließenden Flanieren auf die Menschen wirft, die bei einem Glas Wein den Feierabend einläuten, die pralle Einkaufstüten über den Marktplatz tragen, ist gleich ein bisschen anders. Man selbst könnte in diesem Moment schließlich genauso dasitzen – sozial etabliert, ausreichend finanziert, mit sich und der Welt zufrieden. Von den so genannten „Randständigen“ dagegen: keine Spur.

Und was ist mit den „anderen“?

Dabei brauchen die, die keine Wohnung haben, kein Einkommen, kaum Perspektive den öffentlichen Raum noch viel mehr. Etwas, das besonders deutlich wird, als Gabor Mödlagl, Prozessbegleiter in Sachen Stadtentwicklung bei der Stadt Feldkirch, mitten in seinen Ausführungen zur geplanten Neugestaltung des Bahnhofsareals unterbrochen wird – von einem, der vorher noch auf einer Bank an der Bushaltestelle gesessen hat; ein Muskelshirt über den dünnen, tätowierten Schultern, und eine ordentliche Wut im Bauch. Denn obwohl Mödlagl beteuert, dass alle Anwohner, alle Interessengruppen in den Umgestaltungsprozess einbezogen würden, fühlt sich dieser Mann kein bisschen berücksichtigt. Plötzlich steht er also leibhaftig vor uns – ein Konflikt um den öffentlichen Raum, den die Ankündigung zum Rundgang bereits suggeriert hat, der aber bis hierhin nicht wirklich Thema war. Plötzlich werden auch andere Fragen laut: Von den geplanten Wohnungen werden auch einige die so dringend benötigten Sozialwohnungen sein? Nein, Eigentums- und Mietwohnungen, sagt Mödlagl, aber immerhin mit der Zielgruppe Studenten. Und à propos Studierende: Wohin sollen nach dem Umbau all die Schülerinnen und Schüler aus dem Umland, die zu den täglichen 13.500 Reisenden gehören, die den Bahnhof Feldkirch passieren? Auch da muss Mödlagl passen.

Die Diskussion ist eröffnet!

Die Spaziergängerinnen nehmen einigen Gesprächsbedarf mit ins Caritas-Café, wo die Veranstaltung später ausklingt. Und wohin die Caritas wieder einlädt: Am 14. September findet dort um 19 Uhr ein Erzählcafé mit so genannten Notreisenden statt – jenen, die von vielen dieser Fragen betroffen sind: Aufenthalt am Bahnhof, Betteln, Unterkunft.

Auch darum ist der Rundgang initiiert worden vom Kontaktprojekt EU Armutsmigranten Vorarlberg (Caritas/Kaplan Bonetti) und entstanden in Kooperation mit dem Vorarlberg Museum im Rahmen der Ausstellung „Romane Thana. Orte der Roma und Sinti“ sowie der ARGE Wohnungslosenhilfe Vorarlberg, des Vai Vorarlberger Architektur Institut und der Stadt Feldkirch.