Über den Zorn als Gestaltungskraft auch mit zerstörerischer Wirkung diskutierten Experten und ein interessiertes Publikum im Rahmen der zwölften Caritasgespräche im Bildungshaus St. Arbogast. Einmal mehr war die Veranstaltung mit rund 300 Gästen schon Monate zuvor ausgebucht.

von Elke Kager

„Die Idee der Caritasgespräche ist es, sich in Offenheit und Leidenschaft einem Thema zu stellen“, betonten Organisator Bernhard Gut und Caritasdirektor Peter Klinger bei den Begrüßungsworten. „Es soll ein Diskussionsprozess stattfinden, in dessen Rahmen offene Fragen angesprochen werden, sich gleichzeitig aber neue Fragen auftun.“ Spannend das Thema: „Aufbegehren: Sich der Ohnmacht widersetzten – vom Zorn des Menschen.“

Macht und Ungerechtigkeit
Die Tübinger Theologin und Dogmatikerin Dr. Johanna Rahner nannte Beispiele aus der Geschichte sowie der Gegenwart für eine fundamentalistisch-politische Theologie, in der gewaltsames Handeln mit Religion legitimiert worden ist. Begriffe wie der „Zorn Gottes“ würden nur allzu oft für eigene Absichten missbraucht, dadurch entstünden letztlich neue Ungerechtigkeiten. Den auch in Europa auftretenden Extremismus bezeichnet sie als typisch für „gelangweilte, junge Männer, die mit der Rolle, die ihnen zugespielt wird, nicht zurecht kommen und keinen Platz in der Welt finden“. Das Problem sei viel mehr soziologisch-gesellschaftlich denn religiös. Konflikte und Kriege begründen sich ganz häufig um Macht und eine wahrgenommene Ungerechtigkeit: „Und egal, ob Sieger oder Verlierer – das Recht auf Macht wird dann von beiden Seiten durch Religion begründet.“

Orientierungsmuster
Von Seiten der Psychologie betrachtete der Innsbrucker Psychiater Dr. Wilfried Biebl das Thema: „Ohnmacht und damit das Gefühl von Wehrlosigkeit und Inkompetenz ist ein entsetzlicher Zustand.“ Das moderne Leben habe zu einem hohen Gewinn von Autonomie geführt, andererseits steigen auch die Möglichkeiten des Scheiterns. Die individualisierte Moderne habe und quasi „führerlos“ gemacht, erläuterte Dr. Biebl: „Wenn keine Traditionen und Normen mehr vorhanden sind, muss das Individuum sich laufend entscheiden und eigene Orientierungsmuster konstruieren.“ Auch er sprach das Thema „Macht“ an: „Macht wird auch durch die Entwertung des anderen erreicht – das erleben wir in der Politik tagtäglich.“

Wie koordinieren sich zehn Milliarden Menschen?
Mit Spannung erwartet wurde das Referat des an der Universität Ulm tätigen Mathematikers Dr. Franz-Josef Radermacher, der vor allem durch sein Eintreten für eine Ökosoziale Marktwirtschaft bekannt geworden ist. „Mein Thema ist die Frage, wie sich sieben Milliarden Menschen – und in Kürze werden es zehn Milliarden sein – koordinieren, um ein menschenwürdiges und für die künftigen Generationen nachhaltiges Dasein zu ermöglichen.“ In den 90-er-Jahren sei der Finanzsektor quasi „das Gehirn der Menschheit“ gewesen, seit der Finanzkrise sei dieses Denken zusammengebrochen. Die Lösung ist seiner Meinung nach der sogenannte „green and inclusive capitalism“: „Es müssen eine soziale Balance und ein kulturelles Miteinander sowie ein konsequenter Umwelt- und Ressourcenschutz umgesetzt werden.“ Ein Ansatz aus seiner Sicht ist es, dass jedem Menschen als soziales Minimum ein halber Dollar pro Tag als Überlebensgrundlage zur Verfügung steht. „Das Problem ist, dass die reichen Länder dies nicht unterstützen wollen.“

Wunsch nach Zeit
Mit seinem „Verein zur Verzögerung der Zeit“ erntete der Philosoph Dr. Peter Heintel schon in den 90-er-Jahren viel positive Aufmerksamkeit. „Zeit scheint heute einer der Schlüssel für Wettbewerb und Wachstum zu sein. Wir wünschen uns alle mehr Zeit – vor allem aber eine Selbstbestimmtheit der Zeit.“ Die entstehende Verdrossenheit etwa über Politik bis hin zur manipulativen Übermacht von Medien nehme zu. „Und dennoch finden sich immer wieder Gruppen und Bewegungen, die gegen diese Ohnmacht aufbegehren und dagegen ankämpfen“, sieht er im „Zorn des Aufbegehrens“ auch eine sehr positive Kraft.