Predigt von Bischof Benno Elbs am 24./25. Dezember 2014 im Dom St. Nikolaus, Feldkirch

Liebe Schwestern und Brüder!

„Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt.“
Eigentlich ein sperriger, befremdlicher Satz, den wir da im heutigen Evangelium gehört haben. Welches Wort ist denn da Fleisch geworden? – Es ist das Wort der Liebe. Die Liebe ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt.

In das Antlitz eines Menschen schauen
Ich möchte zwei Gedanken mit Ihnen teilen, was Weihnachten heute bedeuten kann. Wenn wir dieses Wort am Beginn des Johannesevangeliums „das Wort ist Fleisch geworden“ – die Liebe ist Fleisch geworden – ernst nehmen, dann heißt das, dass Menschen sich in das Antlitz schauen, sich in die Augen schauen. Diesen berührenden Satz hat der französische Philosoph Emmanuel Lévinas geprägt. Er stammt aus Litauen und hat in Frankreich gearbeitet, er war Jude und er hat sich die gewichtige Frage gestellt: Warum war der Holocaust möglich? Warum war es möglich, dass so viele Menschen grausam hingerichtet wurden von anderen Menschen, von einem tödlichen System?“ Eine Frage, die heute genauso aktuell ist, wenn ich an den IS-Terror denke, wenn ich an den Terror verschiedener staatlicher Diktaturen denke, wenn ich daran denke, dass weltweit hundert Millionen Christinnen und Christen verfolgt werden: Warum ist so viel Grausamkeit in der Welt heute möglich? Lévinas Antwort lautet: Weil die Menschen vergessen haben, verlernt haben, in das Antlitz der anderen zu schauen.

Weihnachtlich leben heißt, in das Antlitz eines anderen Menschen zu schauen: in das Antlitz einer Familie in einer Zwei-Zimmer-Wohnung, in das Antlitz einer Bettlerin, in das Antlitz eines Asylanten, in das Antlitz eines kranken Menschen, in das Antlitz eines Menschen, dessen Lebensweg gezeichnet ist von Verzweiflung, von Stunden der Einsamkeit, in das Antlitz von Menschen, die sich lieben, die sich freuen über das, was ihnen das Leben schenkt.

Weihnachten heißt, nicht nur auf die äußerlichen Gesichtszüge des Menschen zu blicken, sondern wirklich in die Tiefe seiner Person. Wir werden merken, dass dann das Antlitz von Menschen zu leuchten beginnt, weil ihre Seele berührt wird von dieser zärtlichen Liebe, von der Papst Franziskus im Zusammenhang mit Maria, der Gottesmutter, in seiner Enzyklika Evangelii Gaudium (286) schreibt: „Maria versteht es, mit ein paar ärmlichen Windeln und einer Fülle zärtlicher Liebe einen Tierstall in das Haus Jesu zu verwandeln.“ Weihnachten heißt, dass wir die Welt, dort wo wir leben, in das Haus Gottes verwandeln, indem wir der Liebe Raum geben, indem wir den Blick in das Antlitz anderer Menschen wagen.

Weihnachten, ein Fest der Hoffnung

Und ein zweiter Gedanke: Wenn wir sagen: „Das Wort ist Fleisch geworden“ – die Liebe ist Fleisch geworden – und, wie es dann weiter heißt, „das Licht leuchtet in der Finsternis und die Finsternis hat es nicht erfasst“, dann, glaube ich, ist Weihnachten auch ein Fest der Hoffnung.

Vielleicht haben einige von uns am Barbaratag Zweige gesammelt, die jetzt an diesen Weihnachtstagen zu blühen beginnen. Es ist ein schönes Hoffnungsbild. Die Schriftstellerin Rose Ausländer sagt: „Wer könnte atmen ohne Hoffnung, dass auch in Zukunft Rosen sich öffnen, ein Liebeswort die Angst überlebt.“ Weihnachten ist der Zeitpunkt, die Erfahrung, das Geheimnis, dass Liebesworte die Angst überleben.

Das ist mir jetzt vor Weihnachten wieder einmal deutlich bewusst geworden im Kontakt mit Familien, die ein sehr schweres Schicksal zu tragen haben, die gerade ihr Kind verloren haben. Diese Eltern haben mir gesagt, dass Worte aufmerksamer Zuwendung von Nachbarn, von Freunden, von einem Priester ihnen helfen, die Angst, die Verzweiflung zu überleben.

Weihnachten ist ein Fest für schöne Tage und frohe Stunden. Weihnachten ist aber genauso ein Fest für Strecken der Einsamkeit und der Verzweiflung. Gerade dann wird dieses Wort besonders wahr und besonders wertvoll: „Das Licht kam in die Finsternis“ und die Finsternis, die Verzweiflung, hat dieses Licht nicht besiegt, nicht überwältigt, sondern umgekehrt: es ist ein bisschen Hoffnung, ein bisschen Helligkeit in diese Situation gekommen. Weihnachten heißt hoffen, „dass auch in Zukunft Rosen sich öffnen“.

Liebe Schwestern und Brüder, wenn wir dieses philosophische Wort hören: „Das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt“, dann gibt uns Gott damit zwei unverbrüchliche Gewissheiten als Zusage:

- Er sagt: Ich schaue in dein Antlitz, damit auch du in das Antlitz von Menschen schaust und so hilfst, dass Menschen Menschen werden, dass Menschen Menschen bleiben können, dass Menschen groß werden.
- Und das Zweite: Ich sage zu dir, dass ich als Licht in die Finsternis, in die dunklen Wege deines Lebens komme, damit die Finsternis des Lebens das Licht, die Freude, das Schöne nicht überwältigen kann.

So wünsche ich in uns in diesem Sinn gesegnete Weihnachten:
Das Wort ist Fleisch geworden – die Liebe ist Fleisch geworden – und hat unter uns gewohnt. In ihm war das Leben und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht leuchtet in der Finsternis und die Finsternis hat es nicht erfasst.