Im Text des heutigen Sonntagsevangeliums liegt der Ursprung des Sprichwortes vom „Prophet im eigenen Land“, der zuhause kein hohes Ansehen hat. Als Jesus in seiner Heimatsynagoge lehrt, sind die Menschen zuerst von seinen Worten beeindruckt. Auch seine kraftvollen Heilstaten haben sie in Erinnerung. Doch weil er in ihrer Mitte aufgewachsen ist, weil sie seinen Beruf und seine Familie kennen, lehnen sie ihn ab. Seine Worte und seine Heilstaten berühren sie nicht mehr.

Evangelium: Mk 6,1b-6

Jesus wundert sich darüber. Und ich wundere mich mit ihm. Wieso gelten die Prophet:innen im eigenen Land weniger? Vielleicht ist es die Sehnsucht nach Perfektion, nach dem reinen Ideal, das es in der alltäglichen realen Welt so nicht geben kann.

Ich lade Sie zu einer kleinen Gedankenübung ein. Wenn Sie mit einer Persönlichkeit Ihrer Wahl ein gemütliches Abendessen verbringen dürften: Wen würden Sie sich an Ihren Tisch wünschen? Ganz unabhängig davon, ob diese Person noch lebt oder schon gestorben ist? Und dann überlegen Sie sich, wie nahe oder fern dieser Mensch Ihrem Alltag ist.

Bei mir würde Martin Luther King am Tisch sitzen, weil er mich mit seiner Gewaltlosigkeit und radikalen Feindesliebe schon als Jugendlicher beeindruckt hat. Aufgrund der zeitlichen und räumlichen Distanz kenne ich nur das Bild, das Bücher und Filme vom Friedensnobelpreisträger aus den USA zeichnen. Das macht es mir leichter, ihn zu idealisieren. Ich kenne seine Schattenseiten nicht, die jeder Mensch nun einmal hat. Doch wenn ich sie kennen würde: Würde das sein Engagement für die Gleichberechtigung der Afroamerikaner:innen schmälern? Oder vielleicht sogar aufwerten, weil mich der Einsatz eines Menschen aus Fleisch und Blut mehr beeindrucken könnte als der einer fiktiven Lichtgestalt?

Diese Überlegungen führen mich zu einer zweiten Frage, die mich mit den Zeitgenossen von Jesus verbindet: Worüber staune ich? Worüber kann ich mich noch wundern? Möglicherweise haben die Menschen in dieser Synagoge sich einen Gott, der ihnen so nahe kommt, der ihnen in ihrem Alltag begegnen will, einfach nicht vorstellen können.

„Gott in allen Dingen finden“ empfiehlt der Hl. Ignatius von Loyola als geistlichen Übungsweg. Dafür braucht es jeden Tag eine oder mehrere kleine Unterbrechungen, eine kleine Stille, in der vor Gottes liebevollem Blick mein Alltag nachklingen darf. Hier stelle ich mir die Frage: Wo bist du mir heute begegnet? Wo hast du mich berührt? Was hast du mir geschenkt? Wen hast du mir zugemutet? Mit dieser Übung lerne ich zu staunen, mich zu wundern und – vor allem – lerne ich die Dankbarkeit für die Nähe Gottes.

Lebenslang gehe ich in diese Schule: jeden Tag neu sehen und hören lernen, damit ich nicht verpasse, wer mir heute wieder zur Prophetin, zum Propheten, zum Fingerzeig auf die bedingungslose, unglaublich nahe Liebe Gottes werden möchte.

Und das führt mich abschließend zu einem Text des Dichterpfarrers aus Bern, Kurt Marti, der in diesem Jahr 100 Jahre alt geworden wäre und mit dem ich auch gerne einmal ein Tischgespräch geführt hätte.

grosser gott:
uns näher
als haut
oder halsschlagader
kleiner
als herzmuskel
zwerchfell oft:
zu nahe
zu klein –
wozu
dich suchen?
wir:
deine verstecke

Mag. Thomas Berger-Holzknecht
Gemeindeleiter Mariahilf